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Das Kopernikus-Syndrom

Das Kopernikus-Syndrom

Titel: Das Kopernikus-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
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Auf jeden Fall hatten sich die Augusthitze und die Angst gegen mich verschworen. Diesen Kampf hatte ich von vornherein verloren.
    Noch nie war meine Paranoia derart kritisch gewesen. Ich war benommen von den Stimmen, die meinen Kopf überfluteten, von den Sätzen, die ich nicht vergessen konnte und von denen ich wusste, dass sie einen tieferen, wichtigen Sinn haben mussten. »Transkranielle Augen, 88, die Zeit des zweiten Boten ist gekommen. Heute die Zauberlehrlinge im Turm, morgen unsere mörderischen Väter im Bauch, unter 6,3.« Ich hatte kein Zeitgefühl, ich fand die Zeit entsetzlich lang und zugleich nicht greifbar, fühlte mich für immer eingeschlossen in der Endlosschleife meiner 88:88. Beim geringsten Geräusch in meinem Zimmer berührte ich mit dem Finger die gefrorene Oberfläche der nackten Angst, die Wurzel des Entsetzens, die sich wie ein riesiger Eispickel in meine Wirbelsäule bohrte.
    Am Morgen des dritten Tages, als ich mich willenlos in eine Art Schlafersatz gleiten ließ, schreckte ich durch ein dreimaliges Klopfen an meiner Tür auf. Drei dröhnende Schläge, deren Echo mein ganzes Zimmer erfüllte. Ich bekam solche Angst, dass ich fürchtete, mein Herz wäre stehen geblieben. Doch ich hörte es wieder klopfen, stärker denn je. Ich zog mir das weiße Laken unter das Kinn und schloss die Augen, zusammengekauert auf der Matratze. Ich wartete ergeben auf den Tod.
    »Monsieur, Monsieur!«
    Ich öffnete ein Auge. Es war die Stimme des Kerls vom Empfang. »Ist jemand da?«
    Er klopfte noch mal an die Tür, dieses Mal stärker.
    »Sind Sie noch am Leben? Monsieur, sind Sie da?«
    Ich richtete mich auf dem Bett auf, über meine Stirn rann der Schweiß.
    »Monsieur, wenn Sie nicht aufmachen, sehe ich mich gezwungen, die Tür aufzubrechen.«
    »Warten Sie«, rief ich panisch und schlug das Laken zurück. »Warten Sie. Ich … ich habe geschlafen. Ich ziehe mich nur schnell an.«
    »Ah, Sie sind da. Gut … Seien Sie bitte so freundlich und kommen Sie zum Empfang herunter. Die letzten beiden Übernachtungen sind noch offen.«
    Ich glaube, dass ich so brutal in die Wirklichkeit zurückgerufen wurde, löste etwas in mir aus, wirkte wie ein psychologischer Elektroschock, wie eine kalte Dusche. Ohne sich dessen bewusst zu sein, hatte der Hotelangestellte mich soeben aus der paranoiden Spirale befreit, in der ich seit mehreren Tagen feststeckte. Das erste Mal, seit ich mich auf dieses Bett geworfen hatte, fand ich Zugang zur realen Welt, und in gewisser Weise holte mich das, jedenfalls eine Zeitlang, aus meinem Labyrinth der Angst.
    Ich stand sofort auf, getrieben von einem starken Schuldgefühl. Schleunigst ging ich in das winzige Bad, zog mich nackt aus und benetzte Gesicht und Körper mit lauwarmem Wasser. Verdammt, was treibst du denn da? Energisch bearbeitete ich die Blutspuren an den Armen und auf der Stirn. Ich musste mehrere Anläufe nehmen, um die rote Farbe, die sich richtig in die Haut gegraben hatte, abzuspülen. Ich rieb mir die Wange mit meinem Mehrere-Tage-Bart. Ich holte mein Rasierzeug aus dem Rucksack und rasierte mich. Meine Hände zitterten, aus Angst oder vor Erschöpfung, ich weiß nicht. Zweimal schnitt ich mich. Als ich fertig war, legte ich den Rasierer auf den Beckenrand und richtete mich auf, um mich im Spiegel zu mustern.
    Ich erkannte mich kaum wieder. Es war, als hätte ich mein Gesicht eine Ewigkeit nicht gesehen. Meine Züge waren abgeschlafft, mein Kopf war der eines Halbtoten. Immerhin hatte ich ohne Bart meine gewohnte Erscheinung wiedergefunden, aber ich sah immer noch erbarmungswürdig aus. Ich hasste es, mich anzuschauen. Vielleicht mochte ich mein Gesicht nicht, es hatte mich schon immer gestört: die zu lange Nase, die schlechten Zähne, die ewigen Augenringe, der gelbliche Raucherteint. Ich hatte das Gefühl, dass es mir fremd war. Im Grunde fand ich einzig und allein meine Augen erträglich. Meine großen blauen Augen. Sie waren das Einzige in meinem Gesicht, das mir wirklich schien, das mir zu gehören schien. Für immer.
    Ich betrachtete das alte Tattoo auf meinem Arm, dessen Ursprung mir entfallen war. Es zeigte einen Wolfskopf. Ich erinnerte mich nicht mehr an den Tag und den Grund, weshalb ich mir dieses Tattoo hatte stechen lassen. Es stammte sicherlich aus jener fernen Zeit, von der ich nichts mehr wusste.
    Ich blickte an meinem Leib hinunter. Ich war etwas dünner geworden, ein wenig. Die Medikamente hatten mich zur ewigen Aufgeschwemmtheit verurteilt. Ich

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