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Das Kopernikus-Syndrom

Das Kopernikus-Syndrom

Titel: Das Kopernikus-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
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würde mehr so sein, wie es gewesen war. Die Veränderungen in meinem Leben hatten einen Punkt erreicht, an dem es keine Rückkehr gab. Noch nie war mir die Zukunft so unsicher erschienen. Selbst die Gegenwart kam mir schwammig, unzugänglich, trügerisch vor.
    Ich stieß einen langen Seufzer aus. Ich musste eine Art Reinkarnation versuchen, zu dem werden, der ich war. Ich richtete mich auf dem Sofa auf und erinnerte mich langsam an den Vortag. Ich bin nicht schizophren. Beim Einschlafen hatte ich gehofft, dass die Dinge am nächsten Tag klarer, verständlicher sein würden, aber sie waren es nicht. Im Gegenteil. Ich hatte alle Mühe, auch nur halbwegs die Ruhe wiederzufinden, die ich nach meinem Gespräch mit Agnès empfunden hatte. Es schien mir noch schwieriger, die Realität zu akzeptieren.
    Wie kam ich nur dazu, ihr all das zu erzählen? Wie konnte sie mir glauben? Und wenn ich mich getäuscht hatte? Und sie? Glaubte sie mir noch, nachdem sie eine Nacht darüber geschlafen hatte? Und wenn sie mich bei der Polizei anzeigte? Wie konnte ich nur so töricht sein, mich ausgerechnet einer Polizistin anzuvertrauen?
    Einen Augenblick schloss ich die Augen, öffnete sie dann wieder. Ich war immer noch da, auf dem orangefarbenen Sofa. Die Realität war unverständlich, aber sie blieb doch unveränderlich. Ich bin nicht schizophren. Ich muss dem vertrauen, was ich weiß. Und das ist nicht viel. Ich weiß nicht, wer ich bin, ich weiß nicht, warum ich so bin, ich weiß nicht, was mir geschieht, aber eines weiß ich: Ich bin nicht schizophren. Also kann und muss ich meinem eigenen Verstand vertrauen. Das ist ein Ausgangspunkt. Es ist der Moment, sich an Descartes zu erinnern. Mit der Vergangenheit Tabula rasa zu machen. Und dem Verstand zu vertrauen.
    Nach ein paar Minuten Stille gelang es mir schließlich, mich ein wenig zu beruhigen. Ich lauschte dem regelmäßigen Rhythmus meines Atems und ließ mich davon einlullen. Gut. Ich muss jetzt aufstehen. Mich anziehen. Einen Schritt nach dem anderen machen. Mich dem Tag stellen und mit der Erkenntnis meiner neuen Realität vorankommen. Ich kann mich nicht hinter dieser unsinnigen Angst verschanzen.
    Langsam stand ich auf, breitete die Arme aus, als hätte ich Angst, mein Gleichgewicht zu verlieren. Als sei die Schwerelosigkeit der Nacht verschwunden. Ich tat ein paar Schritte vorwärts, und die Welt erschien mir hinreichend stabil. Ich ging durch das Wohnzimmer und warf einen Blick in den Flur. Offensichtlich kein Mensch weit und breit. Agnès' Schlafzimmertür stand weit offen. Sie hatte die Wohnung längst verlassen.
    In der Wohnung herrschte eine beunruhigende Stille. Durch die Vorhänge fiel kaum Licht herein. Von draußen hörte man das ferne Geräusch der Autos, die sich auf den Boulevard des Batignolles drängten. Ich überlegte, wie spät es sein mochte. Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr, sie zeigte immer noch 88:88. Ich fluchte.
    Ich machte kehrt und trat ans Fenster, riss die Vorhänge auf. Im Tageslicht sah die Wohnung ganz anders aus als gestern Abend. Sie hatte ihren Charme verloren und zeigte sich jetzt gnadenlos realistisch. Kein geheimnisvoller Trödelmarkt mehr, sondern lediglich die unaufgeräumte Wohnung eines Mannes und einer Frau. Überall spürte ich die Anwesenheit von Agnès' Mann, ihn und seine Wirklichkeit. Dinge, Kleidungsstücke und Zeitschriften eines Mannes … Ich bekam Angst, dass er plötzlich mitten im Raum stehen würde. Wie konnte Agnès mich nur hier allein lassen?
    Sofort packte mich Unruhe. Mit zitternden Händen zog ich die Vorhänge im Wohnzimmer wieder zu. Erneut versank das Zimmer in ein beruhigenderes Halbdunkel. Ich ballte die Fäuste. Ich konnte nicht in dieser Wohnung bleiben, musste unbedingt hier raus.
    Endlich fand ich die Kraft, mich in Bewegung zu setzen. Ich duschte schnell und kleidete mich an. Beim Anziehen vermied ich es, im Badezimmerspiegel mein Gesicht zu betrachten.
    Ich kehrte ins Wohnzimmer zurück, klappte das Sofa zusammen, und statt schleunigst die Wohnung zu verlassen, ließ ich mich wie magisch angezogen auf die riesigen orangefarbenen Kissen fallen. Ich blieb eine Weile so sitzen, fixierte die Decke, nachdenklich, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch zu gehen und der Angst, mich mit der Außenwelt zu konfrontieren. Mein Verstand befahl mir steh auf, doch meine Beine verweigerten den Gehorsam.
    Nachdem ich lange so unbeweglich dagesessen hatte, spürte ich, wie alle Kräfte mich verließen. Ich

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