Das Kopernikus-Syndrom
versuche nicht, Sie zu beeindrucken. Es ist lediglich mein Lieblingsbuch.«
»Das ist nicht verwunderlich«, sagte sie lächelnd. »Verzeihen Sie, aber mit dieser Geschichte von Émile Ajar, mit den Pseudonymen und dem Strohmann fragt man sich doch zu Recht, ob Romain Gary nicht ein bisschen schizophren ist …«
Ich nickte und lächelte ebenfalls.
»Ja, bestimmt hat mir genau das auf Anhieb so gefallen. Und Sie lesen Krimis, oder?«
Sie verdrehte die Augen zum Himmel.
»Sehr witzig. Bullen lesen natürlich nichts anderes als Krimis.«
»Oh, es ist schon sehr erfreulich, dass sie überhaupt lesen können«, bemerkte ich spöttisch.
»Das ist gemein. Nein, ich lese von allem ein bisschen, wie Sie sehen. Ich mag Unterhaltungsliteratur, Krimis, aber auch Thriller, Science-Fiction und Abenteuerromane. Manche betrachten das als minderwertige Literatur, aber darauf pfeife ich, mir gefällt das, es berührt mich: Ich kann fliehen. Ich verschlinge solche Literatur tonnenweise. Im Übrigen war das immer wieder ein Grund für Auseinandersetzungen mit Luc. Ich habe ihm vorgeworfen, dass er zu viel Zeit mit seinen Freunden verbringt, und er hat mir vorgeworfen, dass ich zu viel lese … Das ist doch eigentlich lächerlich, nicht wahr? Ein echtes Klischee!«
»Ich weiß nicht. Ich bin nicht gerade der Richtige, um mich zu Ehestreitigkeiten zu äußern. Ich habe immer allein gelebt …«
»Hatten Sie noch nie eine Freundin?«
Ich verzog den Mund. Insgeheim hatte ich gehofft, dass ich dieses Thema vermeiden könnte. Und doch … hatte ich vielleicht nur darauf gelauert.
»Ich glaube nicht. Vielleicht hatte ich eine vor meiner Amnesie, aber danach nicht mehr.«
Sie konnte nur mit Mühe ihr Erstaunen verbergen, was mir noch mehr Unbehagen bereitete. Sie musste es gemerkt haben und wandte den Blick ab. Sie stellte ihr Glas auf den Tisch und erhob sich seufzend.
»Nun gut, ich werde Sie nicht weiter langweilen. Es wird höchste Zeit, schlafen zu gehen. Vigo, ich danke Ihnen, dass Sie mir heute Abend Gesellschaft geleistet haben. Es tut mir immer noch leid, dass ich Sie vorhin so angefahren habe. Sie können morgen hierbleiben, und ich verspreche Ihnen, ich werde Sie nicht mehr anschreien. Fühlen Sie sich wie zu Hause. Sie können auch den Computer im Arbeitszimmer benutzen, für Ihre Recherchen.«
»Danke, Agnès, vielen Dank.«
Sie schenkte mir noch ein Lächeln und zog sich dann zurück. Ich erhob mich vorsichtig, um nicht zu stolpern, klappte das Sofa auseinander, zog die Vorhänge zu, ließ mich auf den Rücken fallen und verschränkte die Arme über der Brust. Da der Alkohol mir die Sinne verwirrte, fiel es mir schwer einzuschlafen. Als es mir endlich gelang, schlief ich wie ein Toter.
43.
Am nächsten Tag erwachte ich mit einem schrecklichen Kater. Ich brummte und vergrub mich unter der Bettdecke. Erst nach einer Weile fiel mir wieder ein, wo ich mich befand, aber ich ließ mich nicht wie am ersten Tag von Panik und Schwindelanfällen überrollen. Alles war klar. Ich befand mich in Agnès' kleiner Dreizimmerwohnung. Sie hatte mich einige Tage bei sich aufgenommen, und alles war normal. Ich hatte lediglich einen fürchterlichen Kater.
Ich stand auf, verzog den Mund, blieb aber ganz ruhig. Nach und nach erledigte ich die Rituale eines fast normalen Vormittags: Ich stellte mich unter die Dusche, kleidete mich an und fand in der Küche alle Zutaten für ein anständiges Frühstück.
Nach dem Frühstück kehrte ich ins Wohnzimmer zurück und schaltete den Fernseher ein. Ich schaute mir kurz die Nachrichten an. Man sprach erneut über das Attentat, die islamistischen Hintergründe, die Zahl der Opfer … Ich seufzte und schaltete wieder aus. Ich musste mich auf meine eigenen Nachforschungen konzentrieren. Wie Agnès vorgeschlagen hatte, war es am einfachsten, dass ich selbst herausfand, was es mit dem Protokoll 88 in meinem geheimnisvollen Brief auf sich hatte.
Trotz meiner grässlichen, nicht enden wollenden Kopfschmerzen beschloss ich gegen 9 Uhr, den Computer in Agnès' Arbeitszimmer einzuschalten. Das Zimmer war genauso wie die übrige Wohnung: chaotisch, vollgestellt mit Möbeln und ungewöhnlichen Gegenständen. Der PC stand auf einem Tisch, eingezwängt zwischen Büchern und Papieren und schien wie durch ein Wunder unzählige Stürme überstanden zu haben. Die Tastatur war mit Asche und bräunlichen Flecken übersät. Nach einigen Versuchen kam ich ins Internet und begann meine Ermittlung. Ich musste sie
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