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Das Kopernikus-Syndrom

Das Kopernikus-Syndrom

Titel: Das Kopernikus-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
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suche …«
    »Aha? Sie lieben also keine Romane?«
    »Doch, sehr. Aber ich glaube nicht, weil ich aus der Wirklichkeit fliehen will.«
    »Warum dann?«
    Ich zuckte die Schultern. Ich war mir nicht sicher, ob ich auf diese Art Frage antworten konnte.
    »Ah … wie soll ich das erklären? Es ist eher das Gegenteil.«
    »Das Gegenteil von fliehen?«
    »Ja. Ich lese, weil …«
    Ich rang nach dem passenden Verb.
    »Ich lese, um mich zu verkörpern.«
    »Was wollen Sie damit sagen?«
    »Um mich als Mensch zu fühlen, muss ich den Eindruck haben, etwas zu teilen …«
    »Was zu teilen?«
    »Es ist schwer zu sagen. Hm … die Lage des Menschen? Ich mag die Bücher, in denen ich den Eindruck habe, das zu finden, was die Besonderheit unserer Lage ausmacht, und sei es nur kurz … Ich weiß nicht, ob ich ganz klar bei Verstand bin. Agnès, vergessen Sie nicht, dass ich total betrunken bin.«
    Ich räusperte mich und rutschte auf dem Sofa herum. Derartige Situationen war ich nicht gewohnt, und ich war mir sicher, dass ich das Spiel der Unterhaltung eher schlecht als recht beherrschte. Nach all dem, was an diesem Tag geschehen war, beunruhigte mich die Vorstellung, Agnès zu missfallen, ganz besonders, und ich glaubte jeden meiner Sätze, jedes meiner Worte kontrollieren zu müssen, als könnte der geringste Fehler mir zum Verhängnis werden. Das war sehr schwer.
    »Glauben Sie nicht, dass die Lektüre auch reine Unterhaltung sein kann?«, fragte sie und nippte an ihrem Whiskyglas.
    »Unterhaltung? Ja. Sicher. Ich mag es auch, wenn es dem Autor gelingt, tiefe, unglaublich menschliche, universelle Gefühle zu erwecken, Gefühle, die nicht nur ich habe, sondern die die gesamte Menschheit hat. Das beruhigt mich. Verstehen Sie, was ich sagen will?«
    »Ich glaube ja.«
    »In solchen Augenblicken schlägt das Buch eine Brücke zwischen mir und der Welt, es schafft eine Verbindung zwischen dem Intimen und dem Universellen. Verstehen Sie?«
    »Ja, ja.«
    »Ich weiß nicht, wie Sie mir zuhören, und noch weniger, wie Sie mich verstehen können. Ich bin völlig betrunken und rede viel zu viel, das hat alles gar keinen Sinn.«
    »Nicht doch!«, erwiderte sie lachend. »Sie reden nicht zu viel. Es ist im Gegenteil sehr interessant. Sagen Sie, welche Romane rufen solche Empfindungen in Ihnen hervor?«
    Ich fragte mich, ob sie sich über mich lustig machte oder aufrichtig war. Ich fand es besser, mir vorzustellen, dass sie mich gern reden hörte, weil es sie sicher auf andere Gedanken brachte, weil es sie davon abhielt, an das zu denken, was sie traurig machte …
    »Welche Romane? Hm … Ich weiß nicht … Die Romane von Émile Ajar … Mögen Sie ihn?«
    »Das ist das Pseudonym von Romain Gary, nicht wahr?«
    »Ja. Unter diesem Namen hat er Du hast das Leben noch vor dir geschrieben.«
    »Ach ja. Ich hab das Buch verschlungen«, gab sie zu. »Ich glaube, es ist das einzige, das ich von Gary unter dem Namen Ajar gelesen habe, aber es ist wirklich sehr anrührend. Ich verstehe genau, was Sie sagen wollen.«
    Ich grinste. Ich fand es plötzlich köstlich, beruhigend. Als ob die Tatsache, dass man in der Vergangenheit dasselbe Buch gelesen hatte, als Ersatz für gemeinsame Erinnerungen dienen könnte. Und sogar für gute Erinnerungen.
    »Haben Sie Pseudo nicht gelesen?«
    »Nein.«
    »Nun, Pseudo enthält das alles und sogar noch mehr; darin kommt alles vor, was ich fühle, die Angst, unter den anderen allein zu sein, sich niemals wirklich zu begegnen und zu verstehen, die Angst, nicht authentisch zu sein, nur eine Hülle zu sein – denn das Selbst ist unaussprechbar, und der andere ist unerreichbar. Verstehen Sie, was ich sagen möchte?«
    »Hm … mehr oder weniger.«
    »Alles ist in den ersten Sätzen des ersten Kapitels und im letzten zusammengefasst. Ich kann sie auswendig: Es gibt keinen Anfang. Ich wurde gezeugt, jeder für sich, dann kommt die Zugehörigkeit. Ich habe alles versucht, um mich zu entziehen, aber niemandem ist es gelungen, wir sind alle Hinzugefügte. Und dann: Ich suche weiterhin jemanden, der mich nicht verstehen würde und den ich nicht verstehen würde, weil ich ein erschreckendes Bedürfnis nach Brüderlichkeit habe.«
    Sie schaute mich bewundernd an.
    »Das ist sehr schön. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich alles richtig verstehe, aber es ist schön. Und was für ein Gedächtnis Sie haben!«
    »Ja, glauben Sie nur nicht, ich sei ein großer Gelehrter und wüsste viele Zitate auswendig. Ich

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