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Das Kopernikus-Syndrom

Das Kopernikus-Syndrom

Titel: Das Kopernikus-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
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verzeiht. Und dann merkt man eines Tages, dass man bereits viel zu lange in der Sackgasse steckt. Also beschließt man, ihn zu verlassen, und in dem Augenblick erkennt man, dass man fünf Jahre seines Lebens einem Scheißkerl geopfert hat.«
    Sie stieß einen langen Seufzer aus. Erneut standen ihr Tränen in den Augen.
    »Langweile ich Sie mit meinen Geschichten?«
    »Keineswegs. Es steht Ihnen gut, wenn Sie weinen, es lässt Ihre Augen glänzen.«
    Sie vergrub den Kopf in den Händen.
    »Sagen Sie nichts, ich weiß, dass ich grauenhaft aussehe.«
    »Mir gefallen Sie.«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Machen Sie sich nicht zu viele Gedanken um mich. Sie wissen doch selbst, wie das ist, wenn man eine kleine Depression hat, man heult wegen nichts und wieder nichts.«
    Ich nickte, ich wagte ihr nicht zu gestehen, dass ich ebenfalls Tränen vergossen hatte, als ich ihre Wohnung verließ.
    »Wir beide sind schon was Besonderes, nicht wahr?«, sagte sie und deutete ein Lächeln an. »Die Depressive und der Schizophrene in der Brasserie um die Ecke.«
    »Wollen Sie ein Bier?«
    »Warum nicht.«
    Ich bestellte. Der Kellner brachte uns zwei Bier. Ich sagte mir, dass es sicher nicht vernünftig war, nach all den Streichen, die mein Gehirn mir an dem Tag schon gespielt hatte, dass es bestimmt nicht der richtige Augenblick war, derart viel Alkohol zu trinken. Aber ich musste feststellen, dass es mir half, weil ich mich in Agnès' Nähe wohlfühlte. Also ließ ich mich gehen.
    »Vigo«, fuhr sie nach dem ersten Schluck fort, »ich habe nachgedacht, ich habe meine Meinung geändert.«
    »Inwiefern?«
    Sie zögerte und musterte mich. Ich starrte gebannt auf ihre Lippen, das Bierglas in der einen Hand, die andere Hand um die Tischkante geklammert. Sie ließ sich Zeit mit ihrer Antwort, als hätte sie Angst, eine Dummheit zu sagen.
    »Sie können für ein paar Tage zu mir ziehen.«
    Ich riss die Augen auf. Damit hatte ich nicht gerechnet.
    »Wie bitte?«
    »Ich möchte Sie gern für ein paar Tage bei mir aufnehmen.«
    »Nein, nein, ich will Ihnen nicht zur Last fallen. Und mit all diesen Geschichten würde ich mich auch nicht besonders wohlfühlen. Nein. Ich suche mir ein Hotelzimmer, das ist viel vernünftiger.«
    »Aber nein, das ist Quatsch. Ich habe versprochen, Ihnen zu helfen. Ich schwöre Ihnen, es ist mir nicht lästig. Im Gegenteil. Außerdem habe ich zu Hause Internet, Sie können tagsüber Ihre Recherchen anstellen. Und abends hätte ich Gesellschaft. Das hilft gegen die Depression …«
    »Sind Sie sicher?«
    »Ganz sicher.«
    »Und Ihr Mann? Ich will nicht alles noch schlimmer machen.«
    »Er ist ausgezogen.«
    Ich zögerte. Ich war mir nicht sicher, ob es eine gute Idee war. Und dann … ich konnte den Anfall nicht vergessen, den ich in ihrer Wohnung erlebt hatte. Wie konnte ich sicher sein, dass es nicht wieder losging? Gleichzeitig freute ich mich über die Aussicht, ein paar Tage mit Agnès zu verbringen. Ich weiß nicht, ob ich ohne die vielen Biere ja gesagt hätte.
    »Na schön, einverstanden«, sagte ich lächelnd.
    Sie hob ihr Glas und forderte mich auf, mit ihr anzustoßen. Unsere Gläser klirrten. Dann tranken wir schweigend. Nach einer Weile empfand ich das Schweigen als unangenehm und schnitt ein anderes Thema an.
    »Haben Sie etwas über meine Eltern herausgefunden?«
    »Nein. Noch nicht, aber ich suche morgen weiter.«
    Energisch drückte sie ihre Zigarette im Aschenbecher aus.
    »Vigo«, fragte sie und blickte mich an, »haben Sie … ich würde gern wissen … hatten Sie wieder einen dieser Anfälle, bei denen Sie … hören Sie meine Gedanken?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Sie … Versprechen Sie mir, mich darauf aufmerksam zu machen, wenn Sie spüren, dass wieder ein Anfall kommt? Ich … das letzte Mal hat mir das wirklich Angst eingejagt, und ich möchte lieber nicht wieder dabei sein.«
    Ich lächelte.
    »Klar, Agnès, ich verspreche es.«
    Sie wirkte erleichtert.
    »Gut«, sagte sie plötzlich mit gelöster Stimme, »trinken Sie aus, ich muss ins Bett. Ich bin total betrunken.«
41.
    Moleskin-Notizbuch,
Anmerkung Nr. 151: Wo bin ich?
    Ich suche den genauen Standort meines Ichs. Seinen Hauptwohnsitz. Manchmal hat man eben nichts Besseres zu tun. Ich war nicht sonderlich überrascht: Alles spielt sich in meinem Kopf ab, in meinem Gehirn. Mein übriger Körper ist nur eine groteske zufällige Verlängerung. Übrigens relativ gehorsam. Die Sätze, die Sie lesen, entstehen in meinem Gehirn. Auch

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