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Das Kopernikus-Syndrom

Das Kopernikus-Syndrom

Titel: Das Kopernikus-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
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die, die Sie nicht lesen. Ja. Das ist eine Tatsache: Alles, was bewirkt, dass ich ich bin, befindet sich in meinem Hirn.
    Ich habe versucht, es zu sehen. Ich habe versucht, mir die Dinge anders vorzustellen. Ich habe mich ganz nackt vor einen Spiegel gestellt und habe versucht zu sehen, wo sich mein Ich befindet. Ich habe meinen Körper durchsucht, ihn durchwühlt. Und es ist mir nicht gelungen, mich vom Gegenteil zu überzeugen. Ich weiß genau, wo mein Denken anatomisch angesiedelt ist. Da. Hinter dieser breiten sorgenvollen Stirn. Ich habe versucht, es als Herausforderung anzunehmen, dass mein Denken irgendwo anders lokalisiert sein könnte. Ich habe meine Füße betrachtet, sie lange angestarrt. Ich habe meine Beine begutachtet. Und ich habe versucht, an ihnen den Ort meines Denkens zu finden. Ich habe versucht, an ihnen zu lokalisieren, was mich ausmacht. Und das ist nicht möglich. Meine Beine denken nicht. Sie besitzen nicht die geringste Befähigung dazu. Alles ist da, in meinem Kopf. Ich spüre physisch die Ideen und Erinnerungen, die in meinem Kopf lebendig sind. Und so sage ich mir, dass mein wahres Ich da zu finden ist. An diesem geheimnisvollen Ort, an dem meine Gedanken, meine Erinnerung, meine Vorstellung von der Welt, meine Autonomie und meine Freiheit angesiedelt sind.
    Wenn man mir den Fuß amputierte, wäre ich immer noch ich. Auch wenn man mir die Hand abtrennte, die Leber entfernte, ein anderes Herz einsetzte, ich wäre immer noch ich.
    Ich bin mein Hirn. Und da mein Hirn krank ist, ist auch mein ganzes Ich krank.
42.
    »Trinken wir noch ein letztes Glas?«
    Die Wohnung zeigte noch die Spuren des Streits, den Agnès mit ihrem Mann ausgefochten hatte. Dinge lagen auf der Erde herum, eine Vase war sogar zerbrochen. Es musste sehr viel heftiger zugegangen sein, als Agnès zugeben wollte.
    Das Wohnzimmer machte heute einen völlig anderen Eindruck auf mich als am Tag zuvor, aber das lag sicher an meinem Zustand. In meinem Kopf drehte sich alles, die ganze Welt drehte sich um mich.
    »Ich dachte, Sie wollten schlafen gehen?«, fragte ich und verzog mich auf das verdammte orangefarbene Sofa.
    Agnès zuckte die Schultern und lächelte schelmisch.
    »Bah! Mit einem letzten Glas schlafe ich noch viel besser.«
    »Na gut, auf ein Glas kommt es nicht an«, rief ich und hob auf etwas theatralische Weise die Hand.
    Sie verschwand in der Küche.
    Ich war dermaßen betrunken, dass ich glaubte, mich nie mehr vom Sofa erheben zu können. Völlig schlapp ließ ich meinen Blick über die Regale der Bibliothek direkt neben mir gleiten. Ich hatte Mühe, mich zu konzentrieren, meinen Blick ruhig zu halten. Die Bücher lagen übereinandergestapelt, quollen überall hervor, und ich fand nicht die geringste logische Ordnung. Romane standen neben philosophischen Abhandlungen, Dokumentationen, Biographien und Lexika … Es gab viele juristische Werke, die vermutlich mit Agnès' Beruf zu tun hatten, ein paar alte Comics und eine beachtliche Sammlung Videokassetten. Die Hüllen waren zumeist abgegriffen, abgewetzt. Dies hier war der krasse Gegensatz zu meiner eigenen sorgfältig geordneten Bibliothek. Auf der einen Seite die Romane, alphabetisch nach Autoren sortiert, und auf der anderen Seite die Sachbücher, nach Themen geordnet. Zumindest bis jemand gewaltsam in die Wohnung meiner Eltern eingedrungen war und alles auf den Boden geworfen hatte. Aber ich durfte nicht mehr daran denken. Nicht jetzt.
    Agnès tauchte mit zwei Gläsern Whisky wieder auf. Sie stellte sie auf den kleinen Tisch, dann zündete sie auf der anderen Seite des Zimmers ein Räucherstäbchen an.
    »Sie betrachten meine Bibliothek?«
    »Ja …«
    »Lesen Sie gern?«
    Ich lächelte.
    »Sehr.«
    »Ich auch«, sagte sie und nahm neben mir Platz.
    Ich hörte, wie sie seufzte, und glaubte darin eine extreme Müdigkeit zu erkennen, fast die Resignation am Ende eines harten Tages.
    »Ein gutes Mittel zu fliehen, nicht wahr?«
    »Ich verstehe nicht.«
    »Lesen ist ein gutes Mittel, um zu fliehen …«
    Ich zögerte. So hatte ich es noch nie gesehen. Obwohl ich jede Woche eine riesige Menge Bücher verschlang, hatte ich mich noch nie gefragt, was mich dazu trieb. Ich machte nur ein paar Anmerkungen in meine Moleskin-Notizbücher, um nichts zu vergessen. Die Obsession eines Mannes ohne Gedächtnis. Aber fliehen? Tatsächlich? Wovor?
    »Ich weiß nicht«, stammelte ich schließlich. »Ich weiß nicht, ob ich in den Büchern tatsächlich eine Art Flucht

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