Das Krähenweib
Stimme verstellt hatte.
»Ich habe sie noch nicht gesehen«, antwortete Annalena. »Sie wird sicher noch in ihrer Kammer sein.«
Hildegard kniff die Lippen zusammen, so dass alles Rot in einem schmalen Strich verschwand. »Geh noch mal hoch und sieh nach ihr.«
Die Härte, die Hildegard gestern noch in ihrer Kammer an den Tag gelegt hatte, war verschwunden und einer beinahe fürsorglichen Regung gewichen. Ob sie den Plan aufgegeben hatte, Marlies wegzuschicken? Vielleicht war sie ja zu dem Schluss gekommen, ihr helfen zu können. Annalena stellte den Eimer wieder ab und stapfte nach oben. An der Kammertür angekommen, blieb sie stehen und klopfte.
»Marlies?«
Eine Antwort blieb aus. Annalena klopfte erneut, aber wiederum regte sich nichts. War Marlies ohnmächtig geworden? Hatte sie sich beim Fallen den Kopf angeschlagen?
Sie öffnete die Tür. Das, was sie zu sehen bekam, überraschte sie. Marlies war nicht da. Das Bett war ordentlich gemacht – oder in der Nacht gar nicht erst benutzt worden.
Blitzartig wirbelte sie herum und rannte die Treppe hinunter.
»Sie ist fort!«, rief sie, noch bevor sie die letzten Stufen hinter sich gebracht hatte.
Hildegard schoss in die Höhe. Die kleine Flamme, die sie immer noch nicht zum Lodern gebracht hatte, verlosch beinahe vom Windzug ihrer Röcke.
»Was sagst du da?«, fragte sie und wischte sich die Hände an der Schürze ab.
»Marlies ist verschwunden. Ihr Bett ist entweder gemacht worden oder sie hat es gar nicht berührt.«
»Hast du nach ihren Sachen gesehen?«
Annalena schüttelte den Kopf.
»Dann lauf noch mal hoch und sieh nach. Und schau auch in die Wäschekammer.«
Was sie dort suchen sollte, sagte Hildegard nicht dazu, aber Annalena konnte es sich denken. Sie rannte, so schnell sie konnte, nach oben und strebte zunächst der Wäschekammer zu. Marlies dort nicht von einem Balken hängend vorzufinden, beruhigte Annalena ein wenig, aber nicht genug, um zu verhindern, dass sich ihre Eingeweide vor Sorge schmerzvoll zusammenzogen.
In ihrer Kammer konnte sie nicht feststellen, ob etwas fehlte, aber sie wusste ja auch nicht, was Marlies alles besessen hatte. Kleidung oder persönliche Gegenstände sah sie keine, aber sie selbst besaß ja auch nichts Derartiges. Sie kehrte wieder in die Küche zurück, in der Hildegard mittlerweile unruhig auf und ab ging.
»Und?«
Annalena schüttelte den Kopf.
»Sieh noch im Stall nach, vielleicht ist sie da.«
Glockenläuten tönte ihr aus der Ferne entgegen, als sie das Kontor verließ und über den Hinterhof zum Stall lief. Unzählige Gedanken jagten durch ihren Verstand und einer davon war besonders grausam. Es gelang ihr nicht, das Zittern ihrer Hände zu unterdrücken, als sie das Tor öffnete. Thomas, der Knecht, war noch nicht da, er kam immer erst nach dem Morgengebet, sonst hätte sie ihn zum Nachschauen mitnehmen können.
Das Licht drang in einem breiten Streifen durch die Tür in den Stall, und unter ihren Füßen knisterte das Stroh. Annalena sah sich um. Sie suchte den Boden nach Blutspuren ab, doch alles, was sie sah, war Stroh, das vielleicht schmutzig, aber nicht blutig war. Sie entzündete mit zwei Zündsteinen die Öllampe, die neben der Tür hing, und drang dann tiefer ins Gebäude vor.
Um den Balken, vor dem Marlies es mit Röber getrieben hatte, machte sie einen weiten Bogen. »Marlies?«, rief sie, erhielt allerdings nur das Gackern der Hühner als Antwort. Sie stellte also eine Leiter an das Loch, das zum Heuboden führte, und kletterte hinauf. Für einen kurzen Moment wurde sie an den Dachboden in Walsrode erinnert, mit den Messern und Äxten ihres Mannes und den Ringen an den Pfosten. Doch die Angst, Marlies tot vorzufinden, vielleicht durch eigene Hand gerichtet, war stärker und drängte die Erinnerung beiseite.
Auch auf dem Heuboden war sie nicht. Annalena war darüber seltsam erleichtert. Sie hätte es gewiss nicht ertragen können, ihre Leiche zu entdecken, und so blieb die Hoffnung, dass Marlies wirklich nur fortgegangen war. Zu einer Kräuterfrau oder fort aus der Stadt.
Als sie die Scheune verließ, bog gerade Thomas um die Ecke. Verwundert blickte er Annalena an, die ihn sogleich fragte, ob er Marlies gesehen hätte, sie sei verschwunden. »Vielleicht ist sie nach Cölln gelaufen, auf die andere Seite der Spree«, mutmaßte er, und Annalena fragte sich, ob er wohl wusste, dass sie ein Kind trug.
Wahrscheinlich nicht, und er schien sich auch nicht viele Sorgen um sie zu machen,
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