Das Krähenweib
ein Verdacht. War der Junge von der alten Engelmacherin geschickt worden? Immerhin hatte Annalena sie gebeten, ihr Bescheid über den Verbleib von Marlies zu geben. Und außer Johann hatte sie nur ihr erzählt, dass sie beim Röber arbeitete. Suchend blickte sie sich um, ob die Alte hier auch irgendwo war, doch sie konnte sie nicht entdecken.
Inzwischen wurde die Tote weggeschafft. Da Marlies keine Verwandten und kein Geld hatte, würde sie wahrscheinlich ein Armenbegräbnis bekommen. Wenn sich herausstellte, dass sie sich selbst ertränkt hatte, würde man ihr sogar nur ein Begräbnis nach Henkersart angedeihen lassen. Das bedeutete, ohne ein Kreuz und nur in Tüchern eingeschlagen vor der Stadtmauer verscharrt zu werden. Annalena ahnte, dass genau das passieren würde.
Sie löste sich aus der Menge der Schaulustigen und rannte ohne Umwege zurück zum Kontor. Sie war es Marlies schuldig, wenigstens von ihrem Tod zu berichten.
Die Haushälterin erwartete sie bereits an der Tür. Ihr Gesicht war hochrot wie ein Hahnenkamm. »Wo hast du dich rumgetrieben?«, keifte sie.
»Sie haben Marlies gefunden«, presste Annalena hervor.
»Was sagst du da?« Hildegard sah sie erschrocken an.
»Sie haben sie aus dem Wasser gezogen.«
Hildegard taumelte zurück, ihre Augen weiteten sich. »Du willst mich auf den Arm nehmen, oder?«
Annalena schüttelte den Kopf. »Es ist die Wahrheit, ich habe es mit eigenen Augen gesehen.«
»Und woher wusstest du das?«
»Ein Junge aus der Nachbarschaft hat mir Bescheid gegeben. Wahrscheinlich wollte er zu Euch, aber weil Ihr nicht zugegen wart, hat er sich an mich gewandt.« Das stimmte so nicht, aber die richtige Erklärung wollte sie lieber nicht preisgeben.
Hildegard sagte hierzu erst einmal nichts. Sie wandte sich um und ging zurück ins Haus. Fast schien es, als seien ihre Beine aus Holz, die Knie beugten sich nur widerwillig. Annalena folgte ihr und war froh, dass Hildegard nicht gleich die ganze Geschichte von ihr forderte. Sie steckte ihr immer noch ziemlich tief in den Knochen, und daran würde sich auch so bald nichts ändern.
Die Haushälterin betrat die Küche, blickte sich einen Moment lang um, als suche sie etwas, dann zog sie sich einen Schemel heran und ließ sich darauf nieder. Das ansonsten bei ihr übliche Ächzen blieb diesmal aus. »Du hast sie also gesehen?«, fragte sie.
Annalena nickte und spürte, wie sich eine Gänsehaut auf ihrem Körper breitmachte und Messerspitzen in ihre Narben zu stechen schienen. Gewiss würden sie Marlies’ Augen bis in ihre Träume verfolgen.
»Hat ihr jemand Gewalt angetan?«
»Das weiß ich nicht, und der Medicus, der zugegen war, meinte, dass er sie erst noch untersuchen muss.«
Hildegard schüttelte den Kopf, und Annalena konnte sehen, wie Schweißtropfen auf ihre blasse Stirn traten. »Das wird einen Skandal geben.« Sie presste ihre Hand gegen die Stirn. »Die königliche Polizei wird kommen und Fragen stellen. Jeder kannte Marlies und wenn herauskommt, dass sie ein Kind trug …«
Annalena wollte ihr die Hand tröstend auf den Arm legen, doch Hildegard schlug sie fort. »Geh los und hol Wasser! Ich werde dem Herrn Bescheid sagen.«
Damit wandte sie sich um und verschwand aus der Küche. Annalena schloss einen Moment die Augen, denn in ihren Schläfen hämmerte es. Tränen rannen unter ihren Lidern hervor. Solch ein Schicksal hatte keine Frau verdient, auch wenn ihr Kind in vermeintlicher Schande entstanden war. Was war nur mit den Menschen los, dass sie trotz des Gebots der Nächstenliebe, das jeden Sonntag gepredigt wurde, so unbarmherzig mit jenen waren, die am Rande der Gesellschaft standen?
Ein Geräusch aus Richtung der Treppe brachte sie wieder zur Besinnung. Wenn es Hildegard war und sie sie hier noch sah, würde es sicher ein Donnerwetter geben. Sie wischte sich also das Gesicht ab und lief dann zurück zum Brunnen. Die Wassereimer standen immer noch an Ort und Stelle, doch jetzt hatten sich einige andere Frauen eingefunden. Sie warfen Annalena einen kurzen Blick zu, übersahen aber glücklicherweise ihre roten Augen und vertieften sich wieder in ihr Gespräch.
Soweit sie es heraushören konnte, wussten sie noch nichts von der Toten, die man aus der Spree gezogen hatte, aber das änderte sich gewiss bald. Dann würde es besser sein, wenn sie nur noch frühmorgens hierherkam, denn sonst würden die neugierigen Frauen über sie herfallen wie Krähen über einen Kadaver.
Als sie endlich an der Reihe war,
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