Das Krähenweib
als blickte er auf den Turm der Nikolaikirche, der sich ein paar Straßen weiter in den Himmel reckte. Tauben und Krähen umkreisten ihn, hoch oben über seiner Spitze hingen ein paar einzelne Wolken, die von den letzten abendlichen Sonnenstrahlen einen rötlichen Saum erhielten.
Doch in Wirklichkeit bewunderte der Krämer nicht die Schönheit des vergehenden Tages. Er starrte sein Gesicht an, das sich schemenhaft in den Fensterscheiben spiegelte, und es war, als versuche er, eine Entscheidung in seiner Miene zu erkennen.
Eintausend Taler! Dieser Gedanke schlich ihm wieder und wieder durch den Kopf. Mit dieser Summe könnte er auf einen Schlag alles zurückerhalten, was er für die Goldmacherei ausgegeben hatte. Doch war ein eigener Goldmacher nicht ungleich mehr wert?
Nicht, wenn ihn auch der König begehrt, antwortete ihm die Vernunft. Er wird ihn dir nehmen, ohne dass du eine Belohnung erhältst. Aber wenn du ihn auslieferst, hast du immerhin eintausend Taler.
Er hatte Böttger zwar sein Wort gegeben, ihn nicht zu verraten, doch waren Treue und Loyalität nicht ein ungeheurer Luxus in diesen Zeiten? Was wäre, wenn der König befahl, sämtliche Häuser der Stadt zu durchsuchen? Es wäre sogar möglich, dass man ihn bestrafen, gar hängen würde, dafür, dass er Ihrer Majestät seinen Goldmacher vorenthalten hatte. War nicht jedem Mann die eigene Haut näher als die eines anderen?
Röber begann, mit den Fingerspitzen unruhig auf dem Fenstersims herumzutrommeln. Unten auf der Straße gingen ein paar Leute vorbei, ohne ihn zu beachten. Der Wind wehte Laub über die Steine, Spatzen ließen sich nieder, um den Weg nach Krumen abzusuchen.
Der Krämer wog Vor- und Nachteile gegeneinander auf und traf eine Entscheidung.
Erst als sie die Tür ihrer Kammer hinter sich geschlossen hatte, kehrte ein wenig Ruhe in Annalenas Körper ein. Die Türglocke konnte nun nicht mehr bimmeln, und obwohl das nicht hieß, dass keine Soldaten auftauchen und nach Johann fragen würden, fühlte sie sich ein wenig besser.
Allerdings war ihr auch klar, dass sie heute Nacht nicht sehr viel Schlaf finden würde. Die Stimmung im Haus gefiel ihr ganz und gar nicht. Auch wenn ihr Misstrauen vielleicht unberechtigt war, konnte sie nicht anders, als in jedem Anwesenden im Haus einen potenziellen Verräter zu sehen, der Johann für tausend Taler verkaufen würde.
Nachdem sie ihre Arbeit erledigt hatte, ging sie also auf ihre Kammer und wartete, bis im Haus alles ruhig geworden war. Als endlich keine Schritte und Stimmen mehr zu vernehmen waren, schlich Annalena vorsichtig aus dem Zimmer. Der Boden knarzte unter ihren Füßen und ihre Nerven waren bis zum Äußersten gespannt. An der Treppe angekommen, lauschte sie. Von unten war nichts zu hören. Wenn Röber bei Johann gewesen wäre, um mit ihm zu sprechen, hätte man gewiss ein leises Wispern vernehmen können, doch es war totenstill. Vorsichtig schlich sie also die Stufen hinunter und betete im Stillen, dass niemand sie entdecken würde. Unten angekommen durchquerte sie die Küche und strebte dem Verkaufsraum zu.
Ein plötzliches Geräusch ließ sie innehalten. Von draußen klangen Schritte, die sich anscheinend der Haustür näherten. Wenig später erschienen tatsächlich die Umrisse zweier Männer in dem kleinen Fenster daneben. Rasch verbarg sich Annalena hinter der Theke. Gerade noch rechtzeitig, denn im nächsten Augenblick öffnete sich die Tür.
»Ich müsste verrückt sein, mir diese Gelegenheit entgehen zu lassen«, sagte einer der Männer, und Annalena erkannte Röbers Stimme. »Geh zum Hauptmann und gib ihm Bescheid.«
»Ja, Monsieur Röber«, antwortete niemand anderes als Paul.
Annalena durchzuckte es wie ein Blitzschlag. Röber wollte Johann an die Stadtgarde ausliefern! Sie hielt den Atem an und zog die Beine an die Brust. Es war unwahrscheinlich, dass der Krämer um diese Zeit noch hinter den Tresen trat, doch Annalena hoffte, unauffällig genug zu sein für den Fall, dass er es doch tat.
Nachdem sich die Tür geschlossen hatte, entfernten sich Pauls Schritte vom Kontor. Röber blickte ihm durch das Fenster kurz nach, dann wandte er sich um.
Annalena fragte sich, was er jetzt tun würde. Zu Johann gehen, ihm versichern, dass alles in Ordnung war und damit sicherstellen, dass ihm das Kopfgeld auch nicht entging? Oder würde er ihn gar überwältigen und fesseln?
Als Röber die Treppe erklomm, kroch Annalena vorsichtig unter der Theke hervor. Auf Zehenspitzen huschte
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