Das Krähenweib
unterbrach ihn, indem sie ihm einen Finger an die Lippen legte. Noch ein tiefer Blick in seine Augen, dann nahm sie allen Mut zusammen und begann. »Ich hatte einen Mann, ihm bin ich davongelaufen, bevor es mich nach Berlin verschlug.«
Johann wirkte überrascht. »Du warst verheiratet? Das kann ich mir nur schwerlich vorstellen.«
»Ja, ich war verheiratet, und diese Ehe hat Spuren hinterlassen. Furchtbare Spuren, die mich für den Rest meines Lebens zeichnen werden. Ich will, dass du davon weißt, bevor du sie aus Zufall siehst und das Falsche von mir denkst.«
»Was für Spuren meinst du?« Johann blickte sie fragend an. Doch in seinen Augen erkannte sie, dass er bereits die richtige Schlussfolgerung zog.
Tue ich das Richtige oder verderbe ich mir gerade alles?, fragte sie sich, doch jetzt gab es kein Zurück mehr. Sie wandte sich um, so dass der Schein der rußenden Flamme auf ihren Rücken fiel. Dann ließ sie die Decke hinuntergleiten. Ein kalter Schauer glitt über ihr Rückgrat und sie zog unwillkürlich die Schultern hoch. Die Haut über dem Narbengewebe spannte dadurch unangenehm.
»Großer Gott«, kam es Johann über die Lippen.
Da Annalena sich von ihm abgewandt hatte, konnte sie sein Gesicht nicht sehen, doch sie war sicher, dass sich seine Augen vor Schreck geweitet hatten. Als sie wenig später die sanfte Berührung seiner warmen Hände spürte, wusste sie allerdings, dass sie sich nicht in ihm getäuscht hatte.
»Hat er dir das angetan?«, fragte er.
»Ja, das hat er«, antwortete sie. »Erst vor einem halben Jahr hatte ich den Mut, mich gegen ihn zu erheben. Er hat mich sehr oft gezüchtigt, zunächst im Streit, dann wegen Kleinigkeiten und schließlich ohne Grund. Es bereitete ihm Vergnügen.«
Johann zog die silbrigen und rötlichen Spuren auf ihrer Haut vorsichtig nach. Noch nie hatte ihre Haut solch zärtliche Berührungen erfahren. Annalena seufzte leise auf.
»Dieser Mann muss ein Ungeheuer gewesen sein.«
»Das war er«, antwortete sie. »Er hat mich gezeichnet. Was meinst du, was die Menschen denken, wenn sie eine Frau sehen, die Wunden wie ich trägt.«
Johann biss die Zähne zusammen, bevor er mit gepresster Stimme antwortete. »Sie halten sie entweder für eine Diebin oder eine Hure.«
»Genau, eine Hure. Das war vermutlich genau das, was er für mich im Sinn hatte.«
»Aber selbst Verbrechen wie diese werden nicht mit derart vielen Hieben bestraft!« Der Zorn auf den Unbekannten ließ Johanns Stimme zittern.
»Glaubst du wirklich, die Menschen achten darauf oder zählen nach?«, gab Annalena zurück. »Sie sehen die Wunden und schon steht ihr Urteil fest. Menschen werten viel zu schnell.«
»Ich mache das nicht«, entgegnete Johann leise und strich weiter über die geschundene Haut, ganz zart, als seien seine Finger Federn. Fast kam ihm ihr Rücken wie eine Landkarte vor, eine Karte jenes Weges, der bereits hinter dieser Frau lag. Mehr denn je wollte er sie beschützen, mehr denn je begehrte er sie.
»Doch, du tust das auch«, widersprach Annalena und schloss die Augen. »Was ist mit den Henkern? Der Geschichte von den Krähen, den Geistern der Getöteten?«
»Das sind alte Geschichten, die von Mund zu Mund gehen. Ich gebe natürlich nichts darauf, weil ich weiß, dass es ganz andere Gefahren gibt, denen Menschen anheimfallen können.«
»Und dennoch gibt es Menschen, die diese Geschichten für bare Münze nehmen, wenn sie sie aus deinem Mund hören. Wenn nur eine Person mitbekommt, dass man mich eine Hure oder Diebin nennt, bin ich für alle anderen auch gestempelt. Niemand wird mir glauben, dass ich kein Verbrechen begangen habe, sondern ein Verbrechen an mir begangen wurde.«
Auf diese Worte kehrte Stille in die Scheune ein. Annalena wandte sich um, um Johann endlich in die Augen sehen zu können.
»Ich werde dich nie verurteilen. Und ich werde auch nie Vermutungen über dich anstellen. Alles, was zählt, ist das Hier und Jetzt. Ich liebe dich, weil du bist, wer du bist, Annalena.«
Vorsichtig, als wollte er etwas Zerbrechliches berühren, streckte er die Hand aus und strich über ihre Wange.
Annalena schloss zitternd die Augen. Eine einzelne Träne rollte über ihre Wange. Johann fing den Tropfen mit einem Finger, beugte sich dann vor und küsste sie, so zögerlich, als erwarte er Widerstand von ihr.
Doch für Annalena war es in diesem Augenblick, als sei er die Hand, nach der sie nur greifen musste, um gerettet zu werden. Sie hatte so lange auf ihn gewartet,
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