Das Kreuz der Kinder
Wichtigkeit herauszustreichen.
Selbst wenn Kazar die Gabe besäße, sich unsichtbar zu
machen, an ihren geschwellten Brustkästen und Respekt
heischenden, ›unauffällig‹ umherschweifenden Inspektorenblicken mußte jeder sofort erkennen, wer da in ihrer
Mitte wandelte. Das war Rik besonders grotesk
aufgefallen, als sich Kazar unter die Menge mischen
wollte, die gebannt an den Lippen des Märchenerzählers
hing. Alle hatten sich nach dem hohen Besuch umgedreht.
Als hätte der Emir die Gedanken seines Freundes
erraten: »Wie hat Euch der Haqawati heute gefallen?«
beendete er sein Schweigen. »Ich denke manchmal, daß
gerade seine Blindheit ihn besonders befähigt, mit Worten
Bilder zu malen, die seine Zuhörer jedesmal in den Bann
schlagen!«
Rik überwand seine Verwirrung ob der plötzlichen Frage
– vielleicht sollte jeder gute Herrscher die Gabe besitzen,
in den Hirnen seiner Umgebung zu lesen? »Der
spindeldürre Samir ist wahrscheinlich nicht nur ein
trefflicher Erzähler, sondern auch ein aufmerksamer
Zuhörer, was ihm den erstaunlichen Reichtum an immer
wieder neuen Geschichten verschafft«, entgegnete Rik
nachdenklich, »schließlich gilt der dicke Mustafa, sein
leiblicher Bruder und stumm von Geburt, als der
betörendste Verfasser von Liebesbriefen, die er für
Männlein wie Weiblein schreibt, die sich selbst nicht
trauen – oder der Schrift nicht mächtig sind –, ihre
Gefühle in Worte zu fassen.«
»Da magst du recht haben, Rik – vielleicht sind die
beiden, der Haqawati und der Sha’ar, genau das rechte
Paar, um auch die verworrenste und trockenste Geschichte
in Worte zu fassen, die Ohr und Herz fesseln, und so zu
Papier zu bringen, daß Auge und Verstand sich an ihr
erfreuen!«
»Woran denkt Ihr?« fragte Rik mit leichtem Argwohn.
Der Emir ließ es ihn sofort wissen: »An die Zustände in
unserem Saal des gequälten Pergaments!«
Rik schluckte, der Emir bemühte sich um einen heiteren
Ton. »Wir – Ihr – schreibt dort nicht für das Abendland,
sondern für einen Leser des Orients!«
»Erst werft Ihr mir vor –.«, empörte sich Rik dennoch,
»meine Legenden seien zu blumig –.«
Kazar lachte. »Am besten, Rik, Ihr seht Euch als
Chronist, berichtet Tatsachen, erhellt Hintergründe und
denkt nicht an Stil und Wirkung!«
»Soll ich das etwa Marvan Bou kitab überlassen!?«
»Laßt es meine Sorge sein!« schlug der Emir begütigend
vor, Rik verbiß sich jede weitere Entgegnung. Kazar
lenkte ein. »Habt Ihr eigentlich Melusine danach noch
einmal wiedergesehen?«
Diese Frage brannte ihm schon lange auf der Seele.
Rik schüttelte verneinend sein Haupt. »Ich nicht, aber –
.«, fügte er hinzu, als er die Enttäuschung des anderen
wahrnahm.
Der Emir winkte ab. Sie waren am Palast angelangt.
Aus Tunis war Timdal eingetroffen. Rik hätte ihn nicht
wiedererkannt – er hatte ihn auch nur ein- oder zweimal
gesehen und inzwischen hatte der Mohr grau gekräuseltes
Haar. Daß sich der Deutsche überhaupt an Timdal
erinnerte, lag auch daran, daß er zuvor nie einen
Schwarzen zu Gesicht bekommen hatte.
»Ihr kommt wie gerufen, lieber Timdal«, begrüßte Rik
den neugewonnenen Mitstreiter. »Wir betreten jetzt ein
Land, dem ich gerade den Rücken kehrte, also wenig zu
berichten habe von allem, was der Emir zu erfahren
begehrt.«
»Was ich zum Füllen Eurer Lücken aus dem Stollen
meiner Erinnerungen emporschaufeln kann, will ich dem
gnädigen Herrn Kazar Al-Mansur mit Freuden zu Füßen
legen!«
Der Mohr zeigte keinerlei Befangenheit, weder Rik
gegenüber noch vor dem Minoriten, den er allerdings mit
dem Eingeständnis, nicht schreiben zu können, arg
enttäuschte.
»Dem Emir geht es vor allem um Melusine«, fügte Rik
noch an. Da ging ein Leuchten über das Gesicht des
Mohren.
»Verlaßt Euch auf mich: Ich spring Euch bei, wenn Ihr
den leuchtendsten Stern meines nachtdunklen
Seelenhimmels aus den Augen verlieren solltet!«
Timdal strahlte etwas Herzgewinnendes aus, jeder mußte
ihn auf Anhieb mögen. Doch zu Riks Enttäuschung und
Erstaunen erklärte sich der Mohr zur erwarteten Mitarbeit
nur bereit, wenn es ihm gestattet sei, die Geschichte der
schönen Melusine in der Reihefolge und Ausführlichkeit
zu erzählen, die ihm geläufig sei, selbst wenn er nicht in
jedem Augenblick an ihrer Seite war. Rik war alles recht,
denn mit seinem Wissen allein konnte er die gewünschte
Erzählung nicht vorantreiben. Dem Majordomus schien
diese Lösung
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