Das Kreuz der Kinder
Bordàs ist es den Belagerern inzwischen
gelungen, eine Hauswand zum Einsturz zu bringen, und
sie dringen wutentbrannt durch die Bresche ein. Wider
jede Erwartung und Gepflogenheit werden alle Verteidiger
ungeachtet ihres ritterlichen Standes von den Siegern unter
die weit ausladenden mächtigen Äste der hundertjährigen
Ulme gedrängt, die eine Ecke des Marktplatzes einnimmt.
Mas de Morency, der sich durch seine Rüstung ebenso wie
der örtliche Adel darauf verlassen hatte, nicht wie
gemeines Volk über die Klinge springen zu müssen,
sondern gegen Lösegeld davonzukommen, wird wie allen
anderen der Strick um den Hals geworfen. Seinem Sohn
Pol ist aus dem Kellerverlies nur ein beschränkter Blick
nach oben vergönnt. Er blickt von unten durch den
Schacht vor seinem Gitter nur auf die Füße und Waden der
Zusammengedrängten, er glaubt das Schuhwerk seines
Vaters zu erkennen – doch dann entschwinden Hose und
Stiefel aus seinem Blickfeld nach oben, und in das zuvor
eingesetzte Schweigen bricht zögernd Wehklagen ein. Pol
kann sich keinen Reim auf das Bild und die Töne machen,
die bis zu ihm dringen, aber er vernimmt deutlich die
geifernde Stimme, die Gottes Zorn auf Aufrührer und
Ketzer herabbeschwört. Sie gehört Luc de Comminges,
einem Domenikaner-Novizen, der sich in Vertretung
seines erwarteten Meisters, des Inquisitors Gilbert de
Rochefort, mit übler Hetze hervortut.
Bericht und Niederschrift der Ereignisse während der
›Ketzerkriege‹ im fernen Land der Franken hatten einige
Tage ausgesetzt werden müssen, denn in der Bibliothek
bauten Handwerker, Möbelschreiner, Kunstschmiede und
ein Seilermeister auf Geheiß des Emirs in einer Ecke der
Sala al-Kutub einen gewaltigen Schrank ein, der bis an die
Decke stieß. Kazar Al-Mansur hatte wortkarg lediglich
verlauten lassen, daß es sich um einen Aufzug handle, der
die beschriebenen Pergamentblätter zu ihm
hinaufbefördern solle. Zwar lagen die Arbeitsräume des
Emirs direkt über der Bibliothek, doch erschien Rik der
Aufwand für den schlichten Zweck reichlich übertrieben,
wenn nicht gar unglaubwürdig.
Irgendetwas stimmte mit dem Kasten nicht, der auf der
Frontseite ein engmaschiges Holzgitter aufwies, wie man
es in Haremsfenster einsetzte. Aber Kazar Al-Mansur
besaß keinen Harem, beziehungsweise dieser war seit dem
Tod von Melusine schnell verwaist. Lediglich die kräftige,
pechschwarze Sudanesin hauste noch dort, die damals als
Milchamme gedient hatte. Ma’Moa war immer noch für
Karim, den sie gesäugt und auf den Knien geschaukelt
hatte, die einzige und machtvolle Frauenfigur, die große
schwarze Mutter, zu der er flüchtete, wenn er sich einsam
fühlte, von Rik nicht verstanden und von seinem Vater
falsch behandelt. Ma’Moa war mundfaul, aber dafür
summte, gurrte und trällerte sie von morgens bis abends
irgendwelche Liedchen, was sehr beruhigend wirkte. Sie
hatte ein Töchterlein namens Aisha, das sie kurz vor der
Niederkunft Melusines zur Welt gebracht hatte und das
sich zusehends zu einem hübschen Kind entwickelte.
Diese beiden Frauen waren die einzigen Bewohnerinnen
des weiträumigen Harems und der einzige Grund, nach
wie vor einen kastrierten Wächter davorzustellen. Rik
vermutete eher, daß seine Existenz der Reputation des
Emirs diente, denn so konnte sich das Gerücht halten, der
unzugängliche Ort sei angefüllt mit den schönsten Huris,
und das verhieß dem stolzen Besitzer alle Freuden des
Paradieses.
Kaum waren die Handwerker abgezogen, hatte sich Rik
mit der Hilfe Timdals daran gemacht, die Arbeit an dem
Bericht wiederaufzunehmen. Um den Wünschen des
Emirs gerecht zu werden, gab er sich alle Mühe, wie ein
›Chronist‹ zu formulieren, doch Timdal grinste nur, denn
der Mohr hatte versucht, dem schwitzenden Schreiber
Marius bei seiner tintenspritzenden Tätigkeit über die
Schulter zu schauen. Da hatte der Mönch sogleich das
Blatt an seine Brust gerissen und sich geweigert
weiterzuschreiben. Timdal versuchte, den schnaufend
Zitternden zu beschwichtigen.
»Das Gekrakel kann doch sowieso keiner entziffern!«
sprach er ihm Trost zu, »oder handelt es sich um eine
Geheimschrift, zu der auch die Abdrücke Eurer plumpen
Finger gehören?«
Der Mohr hackte nicht länger auf dem Mönch herum,
denn der weinte jetzt; dicke Tränen kullerten ihm über die
Wangen, vermischten sich mit den Tintenklecksen.
Riks Aufmerksamkeit wurde auf den Aufzug gelenkt.
Nicht nur, daß
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