Das Kreuz der Kinder
gelingt ihnen
auch, bis zum Thron vorzudringen, wo Stephan zu
Gilberts größter Pein – plötzlich einen Brief hervorzieht,
von dem er behauptet, Jesus Christus persönlich habe ihm
das Schreiben anvertraut und ihn geheißen, einen
Kreuzzug zu predigen, der nicht christliche Länder
verwüsten, sondern der Befreiung des heiligen Grabes
dienen solle. Dies alles koste den König gar nichts, weil
er, Stephan, als Anführer des Kreuzzugs die Kinder für
das Unternehmen sammeln würde, die ihm mit
brennendem Herzen für Gottes Lohn folgen würden. Das
Schreiben hatte ihm Luc aufgesetzt, ohne zu ahnen, zu
welchem Behufe er es niederschrieb.
Philipp ist jedoch von dieser göttlichen Botschaft
keineswegs beeindruckt, sondern eher darüber pikiert. Er
befiehlt dem Hirtenjungen, sich heimzubegeben; doch
Stephan läßt sich den Mund nicht verbieten, er hat sich
derart in seinen Wahn gesteigert, daß er nicht mehr
aufzuhalten ist. Vor dem Portal der Abtei scharen sich
schnell die ersten jugendlichen Zuhörer, um den von
seiner Verheißung besessenen Knaben reden zu hören, der
ihnen verspricht, das Meer würde sich teilen, wie
seinerzeit vor Moses, wenn sie ihm folgen würden ins
Heilige Land, zur Rettung der Christenheit.
In der Kutsche von Marie de Rochefort, Hofdame der
Königin, trifft Melusine de Cailhac, das junge Ding aus
dem Orléanais, also aus tiefster Provinz, in Paris, der
Hauptstadt Frankreichs, ein. Dummerweise hat sie sich auf
der langen Reise von ihrer Gastgeberin entlocken lassen,
daß sie einen blonden deutschen Ritter sucht, von dem sie
nicht einmal den Namen weiß, nur daß er sich nach Reims
wenden wolle, um dort Dombaumeister zu werden. Dieses
freimütige Geständnis der Jüngeren versetzt der
attraktiven Hofdame einen heftigen Stich. Sie ahnt sofort,
um wen es sich handelt, schließlich hat sie sich bei Rik
und Oliver einen ärgerlichen Korb geholt. Auch passen
derlei verliebte Hirngespinste keineswegs in die Pläne, die
Marie mit dem Mädchen vorhat.
Anstatt sie, wie versprochen, im Hofstaat der Königin
unterzubringen, schafft sie Melusine erst einmal in das
Stadtpalais der Rochefort, wo sie das Mädchen wie eine
Gefangene hält und wie eine Magd behandelt. Als
Melusine aufbegehrt, sperrt Marie sie regelrecht ein. Der
einzige Trost der jungen Cailhac, die ihr Schicksal
ungebrochen als auferlegten Minnepreis erträgt, ist die
Zuversicht, ihren blonden Ritter wiederzusehen und die
freundliche Zuneigung des kleinen Timdal, des
Leibmohren der Hofdame, der ihr Beistand zur Flucht
verspricht. Manchmal vermißt sie jetzt auch den Zuspruch
des Pol de Morency, dieses einfachen Bauernjungen aus
ihrer Heimat, dessen Freundschaft sie leichtfertig
verschmäht hatte, indem sie ihn einfach stehen ließ, als
sich ihr die Möglichkeit bot, ihrem blonden Deutschen zu
folgen. Doch eine Cailhac ist es gewohnt, das zu
bekommen, nach dem sie verlangt!
Auf den Stufen der Kathedrale ›predigt‹ Stephan, der
Hirtenjunge, mit beschwörender Stimme von seiner
Vision. Er schreit nicht, er befiehlt nicht, sondern zieht mit
dem Bild vom sich teilenden Meer seine jugendlichen
Zuhörer in seinen Bann. Wenn sie dem von Gottes Odem
Berührten folgen, werden auch sie zu den Auserwählten
zählen, die nicht er, sondern Jesus Christus selbst nach
Jerusalem führen wird. Einige beginnen zu singen, viele
beten voller Inbrunst.
Zu den ersten Gefolgsleuten des jungen Predigers, der
von manchen für eine Reinkarnation von ›Peter, dem
Einsiedler‹ gehalten wird, jenem charismatischen, wenn
auch chaotischem Führer des ersten Kreuzzugs, gehören
Étienne und Blanche, beide kaum älter als Stephan.
Étienne, ein waches Kind der Straße, ist von keinen
Skrupeln geplagt, geschweige denn vom plötzlichen
Aufwallen des Glaubenseifers. Er sieht hier seine Chance,
in eine ferne Märchenwelt zu entkommen, denn der Boden
wird ihm in Saint-Denis zu heiß, mehrfach spürte er schon
den Blick des Profoses im Nacken, der Maß nahm für den
Strick. Blanche, die einfältige, kindliche Hure, verliebt
sich sofort in Stephan und will als seine Magdalena nicht
mehr von seinen Füßen weichen.
Selbst Daniel, der skeptische Meßdiener, hat seinen
Posten am Altar von Saint-Denis verlassen und lauscht
beeindruckt der geheimnisvollen Verheißung des
Hirtenknaben.
Gilbert de Rochefort, der Inquisitor, beobachtet aus dem
Hintergrund zufrieden den enormen Zulauf.
Erst jetzt treffen Rik und sein
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