Das Kreuz der Kinder
hielt sich noch
einmal mit Nachdruck an Rik, »so Euren Freund, Ali elHakim, vielleicht auch Alekos, den findigen Schankknecht
aus der Taverne am Hafen, denn Ihr nähert Euch ja nun
mit Riesenschritten der Stadt unseres Schicksals.«
Lächelnd wandte sich Madame dem Emir zu. »Ich
vermag immer noch nicht zu fassen, wie wir damals wie
blinde Hühner unserem freiwillig gewählten Los
entgegentrippelten, flatterten, torkelten, als hätte eine
unsichtbare Hand Weizenkörner gestreut –.«
Kazar Al-Mansur regte das Bild nicht zum Scherzen an.
»Wer vor Verzücken die Augen schließt, sieht den
Habicht nicht, der über ihm kreist«, entgegnete er
nachdenklich, »doch was, bei Allah, erregte solch
maßlosen Taumel?«
»Das herauszufinden«, entgegnete Blanche nun ebenso
ernsthaft, »könnte Ergebnis der Arbeit sein, die Ihr
angeregt habt.«
Sie wollte sich nicht länger aufhalten lassen und wandte
sich schon zum Gehen, da schien ihr noch eine Kleinigkeit
einzufallen, die sie fast vergessen hätte. Sie winkte
huldvoll Rik zu sich und kramte in ihrem Täschlein. Zum
Erstaunen aller zog sie einen schweren goldenen
Siegelring hervor, kaum für eine Frauenhand gefertigt.
»Mein Mann, Abdal der Hafside, läßt Euch grüßen und bat
mich, Euch dieses teure Stück zurückzuerstatten.«
Rik erschrak, er drehte den Ring unentschlossen in der
Hand, bevor er ihn verlegen über den Finger streifte. »Ich
soll Euch ausrichten, es täte ihm leid, einen so guten Mann
wie Euch gedemütigt zu haben!«
Sie winkte noch einmal allen zu und rauschte hinaus, der
Emir begleitete sie, während Marius die Feder bekümmert
an Daniel weiterreichte und geknickt hinterdrein schlich.
aus der Niederschrift von Mahdia
Die Vision des Hirtenjungen
Bericht des Daniel
Saint-Dénis ist ein kleiner Ort, im Nordosten an die
Hauptstadt angrenzend, berühmt durch seine Abtei, in der
sich die Gruft der Könige von Frankreich befindet. In den
Straßen davor wimmelt es von Besuchern, die dem Ort die
Ehre erweisen, und von allerlei Gesindel, das sich von
diesen Besuchern ernährt. Doch vor allem sind es
Jugendliche, fast Kinder noch, die hier herumlungern, so
wie Étienne, der kleine Dieb, und die kindliche Blanche,
die sich als Straßenmädchen ihren Lebensunterhalt
verdient. Er beschützt sie, und sie bemuttert ihn. Étienne
hat heute Pech, denn als er seine Hände an den Geldsack
eines grobschlächtigen Kerls legt, fassen dessen eiserne
Fäuste zu. Der schmächtige Knabe kann nicht wissen, daß
er ausgerechnet an den ›Eisernen Hugo‹ geraten ist, einen
übel beleumundeten Händler aus Marseille. Der läßt
Étienne nicht los, sondern zwingt ihn zum Diebstahl einer
kostbaren Monstranz aus der Kathedrale, denn zur
Sicherheit hat er seine Pranke auch gleich auf Blanche als
Geisel gelegt. Das blutjunge Straßenmädchen hatte sich
arglos und voller Sorge um den Freund genähert, so daß
die innige Beziehung zwischen den beiden selbst einem
unsensiblen Kotzbrocken wie dem ›Eisernen Hugo‹
aufging. Wie ein geprügelter Hund schleicht sich Étienne
in die Kirche, während der ›Eiserne Hugo‹ Blanche in eine
dunkle Ecke zerrt, ihr den Rock hochstreift und sich a
tergo an ihr gütlich tut. In der Kathedrale verrichtet
Étiennes älterer Bruder Daniel als Novize den Meßdienst.
Das erleichtert dem Dieb die Arbeit keineswegs, denn er
weiß, wie sehr Daniel alle Art von Kirchenraub
verabscheut und ihn, seinen mißratenen Bruder, von
ganzem christlichem Herzen verachtet. In Wahrheit drückt
Daniel beide Augen zu, wenn er seinen Bruder auftauchen
sieht – so sehr er auch darunter leidet. Als Étienne endlich
mit dem gewünschten Kleinod unter dem Kittel versteckt
wieder erscheint und es hastig übergibt, will Hugo nicht
einmal für den hastig vollzogenen Liebesdienst zahlen, da
Étienne und Blanche ja ein Pärchen gleichen Schlages
seien. Er zieht mit seiner Beute ab, und die beiden sind so
bettelarm wie zuvor.
König Philipp II. ›Augustus‹ von Frankreich beliebt es,
über der Gruft seiner Vorfahren in der Krypta, auf den
Stufen der Kathedrale Hof zu halten. Hier erscheinen der
Inquisitor Gilbert de Rochefort, nebst seinem Adlatus Luc
de Comminges, im Schlepptau Stephan, der Hirtenknabe.
Gilbert hat sich vorgenommen, dem König ins Gewissen
zu reden und ihn zu überzeugen, Geld für einen Kreuzzug
der Kinder auszugeben, dessen Organisation er als
Vertreter der Kirche durchführen werde. Es
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