Das Kreuz der Kinder
zurück,
ziemlich verzweifelt, denn plötzlich ist der Traum, dem sie
nachgejagt ist, zerplatzt wie eine Laugenblase. Er hat sie
nicht gehört – konnte oder wollte nicht? Das spielte jetzt
auch keine Rolle! Geradezu als vom Himmel gesandter
Engel erscheint ihr da Luc de Comminges, der gräßliche
Gehilfe des Inquisitors, den sie jedoch zunächst nicht
wiedererkennt. Ihm hat sein Herr aufgetragen, alle
Bewegungen der Kinder zu beobachten und einem Auszug
aus der Stadt nach Kräften das Wort zu reden. Daß Gilbert
de Rochefort statt seiner einen unbedarften Meßdiener von
Saint-Denis auserwählt hat, die Botschaft nach
Deutschland zu tragen, stößt ihm allerdings sauer auf. Luc
wäre weiß Gott lieber in den kühlen Norden gereist, als
jetzt den sich anbahnenden Marsch der Kinder in der
Sommerhitze gen Süden ›fördernd zu begleiten‹. Er läßt
seinen Mißmut mit falscher Freundlichkeit an Melusine
aus, in der er einen Sproß des okzitanischen Adels
erkennt, dem seine Familie ebenfalls angehört. Natürlich
sind die Cailhacs für ihn allesamt ›faidits‹ und
verdammenswerte Ketzer, während die Comminges stets
treu zur ecclesia catholica und dem Heiligen Vater
standen. Er war stolz darauf, einer der ersten gewesen zu
sein, die der berühmte Ketzerverfolger Domenikus in
seinen jungen Orden aufnahm. Canes domini, ›Hunde des
Herrn‹, hießen ihre Opfer sie mit Abscheu, nannten sie
sich dann selbst voller Stolz. Perfide redet der fanatische
Luc der jungen ›Ketzerin‹ gut zu, sich dem Zug der
Kinder anzuschließen. Gerade als der kleine Domenikaner
Melusine bei allen Heiligen schwört, daß der von ihr
gesuchte deutsche Ritter samt seinem Freund in der
Kutsche der Marie de Rochefort bereits nach Marseille
abgereist sei, tritt der dem Domenikaner verhaßte Daniel
hinzu, dieser Weihrauchschwenker, und teilt Luc mit, der
Herr Inquisitor wünsche ihn zu sprechen. Luc
verabschiedet Melusine mit solch ›von Herzen
kommenden‹ Segenswünschen für ihr löbliches Vorhaben,
daß sie ihn vor Dankbarkeit fast umarmt hätte. Noch
schwant ihr nicht, daß seine eifernde Hetze
mitverantwortlich war für den würgenden Tod von
Männern wie dem Vater des armen Pol zu Bordàs. Lucs
Gesicht hat sie damals nicht beachtet. Als sie sich bewußt
wird, daß sie selbst dieser geifernden Stimme fast zum
Opfer gefallen wäre, hat die Menge schon den Adlatus des
Inquisitors verschluckt. Melusine hätte sich ohrfeigen
können, wenigstens hatten ihre Augen sie nicht getäuscht
– Rik befand sich in der Kutsche auf dem Weg nach
Süden! Melusine schöpft neuen Mut; dankbar läßt sie sich
in das warme Bett der jugendlichen Menge fallen, die im
schlichten Gottvertrauen alle vereint, ja mit gegenseitiger
Fürsorglichkeit beseelt, die wie sie bereit sind, ihrer
inneren Stimme zu folgen! Hegten doch alle als
gemeinsamen, die Herzen verbindenden Wunsch den nach
einem neuen, besseren Leben.
Mehr noch als Stephans Beredsamkeit schlägt die Kinder
diese sich hochschaukelnde, glühende Stimmung des
Aufbruchs in den Bann. Luc, als selbsternannter ›Vicarius
Mariae‹ verkündet, man solle sich binnen Monatsfrist in
Marseille sammeln, um von dort aus gemeinsam die Reise
nach Jerusalem anzutreten.
Nördlich von Paris bahnt sich die Kutsche der Marie de
Rochefort ihren Weg, durch Tausende von Kindern,
Heranwachsenden aller Schichten, die aus den
umliegenden Dörfern in Massen herbeieilen.
Es wisperte und knackte im Schrank, der in der Ecke der
Sala al-Kutub stand und den Aufzug hinauf die Gemächer
des Emirs barg. Manchmal scharrte und ächzte es auch,
rumorte auf eine Weise, die jeden Gedanken an Mäuse
verwehrte. Rik wartete immer darauf, von seinen
Mitstreitern in der Bibliothek auf das klobige Ungetüm
und dessen Bewandtnis angesprochen zu werden, doch
alle taten so, als wüßten sie genau Bescheid. Keiner redete
darüber, und Rik, eingedenk der Mahnung des Emirs,
vermied es, die Sprache auf den Kasten zu bringen, dessen
Anwesenheit nicht zuletzt für die Spannung verantwortlich
schien, die sich im Raum verbreitete.
»Weit her kann es mit Eurer Liebe für Melusine nicht
gewesen sein«, unverblümt ging Timdal Rik an, der sich
nur mundfaul an dem vorangegangenen Bericht beteiligt
hatte, »daß Ihr selbst ein wackeliges Baugerüst und
mühselig zu behauende Steine für erstrebenswerter hieltet
als die Suche nach der angeblichen ›Dame Eures
Herzens‹?«
Der Deutsche
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