Das Kreuz der Kinder
Freund Oliver – zu zweit
auf dem geschenkten Gaul – in Paris ein. Da aus den
Straßen der gesamten Stadt die Jugend hinausströmt nach
Saint-Denis – die Kunde vom Auftritt des Hirtenknaben
breitet sich wie ein Lauffeuer in den Gassen der engen
Quartiere aus –, geraten auch sie in den Strudel, lassen
sich mitreißen, von Neugier und Abenteuerlust. Nie wäre
ihnen in den Sinn gekommen, daß dieser ›Stephan‹, von
dem alle schwärmen, jener Bursche sein könnte, dem sie
im fernen Wald von Farlot mit seiner Herde begegnet
waren, zumal ihnen, jedenfalls Rik, davon auch nur in
Erinnerung geblieben ist, wie sie sich damals von
Melusine übertölpeln ließen – dank der Vision des
Hirtenjungen vom ›heiligen Georg‹. Ihre Pferde hatte
ihnen das Fräulein unter dem Hintern weggestohlen!
Genausowenig können sie sich vorstellen, daß –
vielleicht nur wenige Straßen weiter – eben jene Melusine,
die mit Hilfe Timdals dem Gewahrsam der Marie de
Rochefort entflohen ist, dem Platz vor der Abtei von
Saint-Denis entgegenstrebt, eingekeilt wie sie in die
immer dichteren Massen vorwärtshastender Kinder, kleine
Tagelöhner ebenso wie behütete Töchter, bleiche Novizen
und grell aufgemachte Hürchen, frühreife Beutelschneider
und junge Marktweiber, arm und reich – sie alle strömen
in die gleiche Richtung, feuern sich an, lassen das Gerücht
vom goldenen Jerusalem anwachsen und erblühen, nicht
mehr wie eine Verheißung, sondern zur unumstößlichen
Gewißheit! Auf sie wartet ein neues Leben, ein besseres
allemal!
Melusine wird allerdings weniger von solchen Träumen
getrieben als von der vagen Hoffnung, daß unter all diesen
Menschen doch irgendwo auch ihr blonder Ritter sein
könnte, sein müßte!
In Saint-Denis will König Philipp dem Spektakel vor der
Tür ein Ende bereiten, aber es sind bereits so viele Kinder
zusammengeströmt, sie beten laut und singen
Marienlieder, daß die Wachen sich weigern, mit Gewalt
gegen sie vorzugehen, zumal die Königin sich für den
jungen Prediger einsetzt. Ihre aufmerksame Hofdame
Marie de Rochefort nimmt in dem entstandenen Tumult
den bereits arretierten Rik in ihrer Kutsche auf. Kleine
Revanche an der ungebärdigen Melusine, die ihr
entkommen ist! Doch Rik will nichts als nach Reims, wo
man mit der Konstruktion der größten und kühnsten
Kathedrale begonnen hat. Ihr allein gilt die Begeisterung
des sich als künftigen Baumeister sehenden, hübschen
Burschen aus Deutschland. Marie verspricht, ihn zu
seinem Ziel zu bringen – ihres ist zwar ein anderes – und
sie nimmt dafür sogar auf Bitten Riks auch dessen Freund
Oliver mit auf die Reise. Zeuge der Verabredung wird Luc
de Comminges, der eifrige Adlatus des Inquisitors, dessen
Schwester die rothaarige Hofdame ist. Marie beauftragt
Luc, ihrem Bruder von ihrer Abreise Nachricht zu geben,
und die Kutsche bahnt sich ihren Weg durch die ihnen
entgegenströmenden Kinder.
Genau zu diesem Zeitpunkt muß Melusine den
überfüllten Platz vor der Abtei erreicht haben. Der Gesang
der Kinder ist inzwischen zum mächtigen Choral
angeschwollen, woran Daniel, der stille Meßdiener nicht
ohne Anteil ist. Ihm gefällt es, die ungezügelten Massen
zum gemeinsamen Singen zu bringen. Melusine entdeckt
die Kutsche der Hofdame, von der sie sich nicht sehen
lassen will. Unschlüssig geht sie in Deckung zwischen den
sich schiebenden Kindern, die von den königlichen
Sergeanten vom Kirchenportal abgedrängt werden. Da
glaubt Melusine ihren blonden Ritter, dessen Namen ihr
der aufmerksame Timdal verraten hat, in der
davonrollenden Kutsche zu sehen. Sie ruft »Rik! Rik!«,
will sich durchdrängen, doch die ihr Entgegenströmenden
verwehren jegliches Durchkommen. Rik hat den Schrei
gehört. »Jemand rief meinen Namen?«
Oliver wehrt scherzend ab: »Das war sicher Jesus!«
Rik verschweigt beschämt, daß er sich eigentlich sicher
war, Melusines Stimme vernommen zu haben. Er kommt
sich wie ein Verräter an seiner Liebe vor, wenngleich er
seinem Freund Oliver Recht geben muß, daß es an der Zeit
sei, wieder heimatliche Gefilde zu erreichen. Er kann das
kühne Mädchen aus dem brennenden Turm einfach nicht
vergessen. Marie de Rochefort hat während des Vorfalls
geschwiegen, sie überging ihn einfach, auf keinen Fall
gewillt, wegen der dummen Cailhac die Kutsche anhalten
zu lassen. Auch Timdal oben auf dem Bock zieht es vor,
Melusine zu übersehen.
Melusine bleibt enttäuscht in der Menge
Weitere Kostenlose Bücher