Das Kreuz der Kinder
Rik die Klage freundlich, doch bestimmt. »Er ist der Herr
des Geschehens – damals wie heute! Weder Ihr noch ich
konnten es vor nunmehr neun Jahren ändern, und wenn Ihr
das Schicksal der Mutter Eures Sohnes umfassend
erfahren wollt, dann müßt Ihr der Geschichte ihren Lauf
lassen, dazu gehört auch der Einbezug eines
unbedeutenden deutschen Ritters wie des jungen Richard
van de Bovenkamp. Melusine war nicht allein, sie war
eine von vielen Tausend jungen Menschen, die sich
aufmachten –.«
»Sag mir, warum!?«
Der Emir schüttelte unwillig den Kopf. »Warum laufen
Kinder ihren Eltern weg, verlassen freiwillig die
Geborgenheit der Familie, stürzen sich in ein Abenteuer
wahnhaften Ausmaßes, ausgemachten Irrsinns? Warum?«
Rik hatte die Antwort nicht parat, er hatte es eigentlich
immer vermieden, sich über den tieferen Grund, gar über
seine eigenen Beweggründe, Rechenschaft abzulegen. »Es
lag in der Luft –.«, gab er mehr seine Unsicherheit zu
erkennen, als daß er zur Klärung beitrug.
Kazar ließ es auch nicht gelten. »Wie die schwarze Pest?
Wie die Cholera? Und wieso auch die jungen Weiber all?«
Das konnte er schon gar nicht begreifen. »Fanden ihre
Väter keinen Mann für sie?«
Rik wich seinem Blick aus, nicht so sehr aus
aufkommender Scham, sondern weil ihm dämmerte, daß
es mit dem Erfassen und Festhalten der zurückliegenden
Ereignisse nicht sein Bewenden haben sollte – er schämte
sich, daß Kazar trotz des Verlustes, den der Emir erlitten,
schärfer und tiefschürfender über das Geschehene
nachdachte, als er, Rik, als Beteiligter. Auch die anderen,
jedenfalls diejenigen, die der Emir um ihn, um sich
geschart hatte, schienen ihr Schicksal ebenso fatalistisch
zu nehmen wie er selbst. Wieso hatte er, Rik van de
Bovenkamp, nicht längst Anteil genommen am weiteren
Lebensweg der Gefährten von damals, der durchaus nicht
immer zwangsläufig in die Sklaverei mündete? Selbst an
seinen früheren Kumpan Oliver hatte er kaum einen
Gedanken verschwendet, so daß er nicht einmal wußte, wo
er sich zur Zeit aufhielt.
»Es stimmt übrigens nicht«, sagte der Emir unvermittelt,
»daß jemand das Seil durchgeschnitten hat, an dem der
Korb hing – es hat sich von der Winde gelöst.«
»Wer hatte Zugang zu dem Mechanismus?« hakte Rik
sofort ein.
»Nahezu jeder Bedienstete des Palastes –.«
»Und Ihr habt wirklich niemanden in Verdacht?«
Kazar Al-Mansur schüttelte müde sein Haupt, die Sache
war ihm näher gegangen, als er zeigen wollte.
»Aber ich«, sagte Rik nachdenklich, »dem Moslah
scheint das, was wir anstreben, zutiefst zuwider zu sein –.«
»Ach, der!«
Kazar schien den Gedanken, der ziemlich nahelag, wie
eine lästige Fliege wegwischen zu wollen. »Die
Hinterhältigkeit des Baouab müßte dafür erst mal seine
Feigheit überwinden!«
Der Emir schien gewillt, die Sache auf sich beruhen zu
lassen.
Rik sah ein, daß er mit seinem Bohren nicht
weiterkommen würde. Um den Emir in eine geneigte
Laune zu versetzen, bot sich an, die Geschichte erst mal
nach Paris zurückkehren zu lassen, wo Kazar Al-Mansur
den Spuren ›seiner‹ Melusine folgen konnte. Doch die
Frage nach dem wahren Hergang des ›Unfalls‹ würde er,
Rik van de Bovenkamp, nicht auf sich beruhen lassen.
aus der Niederschrift von Mahdia
Die Vision des Hirtenjungen
Bericht des Mohren
Zu Saint-Denis haben sich mittlerweile so viele Kinder
versammelt, daß der kleine Ort sie nicht mehr zu fassen
vermag. Kurz entschlossen bringt Luc de Comminges
seinen immer noch zu anfeuernden Predigten bereiten
Stephan dazu, das Zeichen zum allgemeinen Aufbruch zu
geben. Die engste Umgebung des seherischen
Hirtenknaben, zu der jetzt auch Blanche, Étienne und –
noch mit standesgemäßer Zurückhaltung – Melusine
gehören, schmückt das Wägelchen, das Étienne ihm
›besorgt‹ hat, mit Blumen und bunten Bändern. Sie dürfen
sich dafür nun ›die kleinen Apostel‹ nennen, verfügt Luc,
der sich schnell nicht nur in die besondere Gunst Stephans
gedrängt, sondern auch das Kommando an sich gerissen
hat. Melusine beschließt, ihren Unmut über den
Domenikaner dadurch auszudrücken, daß sie ihn einfach
übersieht.
Zu Tausenden ziehen die Scharen die Loire entlang, um
sich dann rhoneabwärts gen Marseille zu wenden. Luc, der
›Vicarius Mariae‹, teilt umsichtig die Scharen in kleinere
Haufen ein, denen jeweils ein ›kleiner Apostel‹ oder ein
›Hund des Herrn‹ vorsteht, sichtbar
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