Das Kreuz der Kinder
erkenntlich an der
›Oriflamme‹, dem Königsbanner mit den drei güldenen
Lilien auf blauem Grund, das er zum Ärger König Philipps
zum Wahrzeichen des Kreuzzugs erwählt hat.
Melusine gerät in Unruhe, als sie erkennt, wie nah der
Zug an jener Gegend vorbeizieht, in der sie die letzten
Jahre verbrachte. Dort hinten dehnt sich dunkel der Forst
von Farlot, in dem sich die Burg der d’Hautpoul verbirgt –
ausgebrannte Mauern! Melusine muß nicht lange mit sich
kämpfen, um den Gedanken zu verwerfen, noch einmal
zurückzukehren. Die alte Geborgenheit ist dahin, liegt in
Trümmern. Aufkommende Wehmut verbietet sie sich. Sie
muß alle Brücken hinter sich abbrechen, sie zurücklassen
wie einen Haufen wertloser Steinquader, leere Wände, die
ihr schon vorher zu eng geworden waren.
»Was bedrückt dich?«
Die teilnehmende Frage von Blanche hilft ihr aus dem
Tal der Zweifel. »Du kommst von hier?« faßt Blanche
einfühlsam nach. »Auf einem prächtigen Schloß wird sie
gewohnt haben«, bemerkt ihr Gefährte Étienne spöttisch,
»mit Dienern in feinstem Tuch.«
Er schaut dabei Melusine offen an, ohne jede
Feindseligkeit, und greift nach dem Arm seiner kleinen
Freundin. »Jetzt hat sie nur noch uns«, stellt er klar. Doch
Blanche nimmt seine Hand und legt sie behutsam, aber
bestimmt auf die Knie von Melusine und ihre eigene
obendrauf.
»Es ist unser Glück, daß wir zusammen sind. Das gibt
uns Kraft und Zuversicht!«
Melusine breitet schweigend ihre Arme um die beiden
und steckt sie schnell mit ihrem Lachen an, das erst
glucksend, dann voll aus ihr herausbricht.
Nahezu alle Teilnehmer gehen zu Fuß, meist barfuß, nur
für Stephan selbst hat Luc auf den Gebrauch des
Wägelchens bestanden, mit Baldachin und mit der
›Oriflamme‹. Es wird eskortiert von Burschen adliger
Herkunft, die von zuhause ein Pferd hatten mitgehen
lassen. Doch niemand neidet dem erleuchteten Propheten
solchen Komfort. Im Gegenteil, man behandelt ihn wie
einen Heiligen: Locken seines Haares, Stoffetzen seiner
Kleidung werden wie kostbare Reliquien gesammelt.
Alle Städte, die sie passieren, überschütten die
kindlichen Kreuzfahrer mit Geschenken, Eltern besonders
kinderreicher Familien animieren ihre Sprößlinge zur
Teilnahme, Klöster lassen ihre Novizen ziehen, aber auch
viele Mädchen vom Lande, die mangels Mitgift sich keine
Hoffnung auf eine erstrebenswerte Ehe machen können,
ziehen dem kargen Leben als Magd, dem kaum weniger
trüben als Nonne oder dem rechtlosen Dirnendasein die
Ungewisse Zukunft des großen, ›heiligen‹ Abenteuers vor.
Rik und der Emir standen auf den Zinnen des Bab Zawila
und schauten ins Land hinaus, das erst in ziemlicher
Entfernung von der Mauer wieder besiedelt war. Ein paar
unbefestigte Häuser drängten sich eng zusammen, als
suchten sie Schutz vor den Stürmen des Meeres und denen
der Wüste. Vor allem aber hielten sie Abstand von dem
Bollwerk, eine seit jeher unerbittliche Auflage für die
Bewohner, deren Tun und Lassen einzig der Herrscher
von Mahdia bestimmte. Doch der Emir wirkte verdrossen.
Er mußte zusehends erkennen, daß er den
Handlungsablauf der Chronik weder Rik anlasten,
geschweige denn selbst beeinflussen konnte. Ihm war, als
nähme Melusine ihren Weg durch die Geschichte, ohne
ihn danach zu fragen!
Um diese Tageszeit hatten alle, die in der Festung ihre
Arbeit verrichteten, längst die Skifa al-Kahla passiert. So
fiel es den Betrachtern – wie auch den Torwächtern – auf,
daß ein einzelner Kamelreiter den Weg von El-Djem
geritten kam, völlig unbekümmert in schneller Gangart.
Sein weißer Burnus wehte, seine Gestalt schien hager und
hochgewachsen, fremd in dieser Umgebung.
Die Neugier des Emirs war geweckt. »Laß uns schauen«,
wandte er sich an Rik, »auch wenn es dir gleichgültig ist,
wer uns mit seinem Besuch beehrt.«
Sie stiegen den Wehrgang des Tores hinab bis zu der
versteckten Brüstung, von deren Scharten aus man jeden
Störenfried ungefährdet erledigen konnte. Die Wächter
hatten den Reiter bereits zwischen zwei der eisernen Gitter
festgesetzt und forderten ihn auf, abzusteigen.
»Mich erwartet Richard van de Bovenkamp!« krächzte
die rauhe Stimme des immer noch verhüllten Reiters.
»Meldet mein Kommen dem Murabbi al-Amir!«
Rik zerbrach sich noch den Kopf, an wen dieses heisere
Organ ihn erinnern mochte, doch der Emir zeigte sich den
Wächtern und wies sie an, den Fremden freizusetzen.
Rasselnd wurde das
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