Das Kreuz der Kinder
er die Felsen hinauf an Land
und schaute sich nach einem Plätzchen um, wo er
ungestört schlafen könnte, bis der Herr Inquisitor
zurückgekommen. Doch dann fiel sein Blick hinunter in
die benachbarte Bucht, wo zwei Männer – an einer langen
Eisenkette – damit beschäftigt waren, Leichen aus einer
dickbäuchigen Barke zu heben und übereinander
aufzuschichten. Sie packten die Körper, der eine an den
Beinen, der andere an den Armen und warfen sie mit
Schwung auf den großen Haufen. Da erkannte er Pol!
Einen Augenblick war Étienne versucht, sich durch Rufen
oder Winken bemerkbar zu machen, doch die Eisenkette
zeigte dem erfahrenen Étienne, daß den Besitzern der Insel
daran womöglich nicht gelegen sein könnte. Er
beschränkte sich auf das Beobachten des makabren
Vorgangs, zumal ihm inzwischen klar wurde, daß hierher
auch die Leichen der ertrunkenen Kinder verbracht sein
mußten, die einen ganzen Tag lang vor der Taverne auf
den Steinen des Kais gelegen hatten. Er sah sich um, wo
hier wohl der Friedhof sein könnte, auf dem offensichtlich
die Toten bestattet wurden, aber er konnte im
Felsengeklüfte der Insel nichts dergleichen entdecken.
Über sich vernahm er jetzt die sonore Stimme des
Inquisitors. Auf der in den Stein gehauenen Treppe
begleiteten die Gastgeber den Monsignore hinunter zu
seinem Boot. Étienne sprang auf.
»Da unten ist Pol!« machte er ihn erregt auf den
Leichenbestatter aufmerksam.
Gilbert de Rochefort runzelte die Stirn. »Mir wäre lieb«,
wandte er sich an den ›Eisernen Hugo‹, »der Junge da
unten könnte mich zurück in die Stadt begleiten.«
Er hatte das beiläufig erwähnt, sicher, daß ihm der
geäußerte Wunsch nicht abgeschlagen würde.
Doch Hugo sah ihn erstaunt an und schickte Étienne
voraus, das Boot bereitzuhalten. »Monsignore«, sagte er
dann, »wollt Ihr unser Geschäft gefährden, daß Ihr ein
nichtsnutziges Maul, statt es zu stopfen, überall
herumerzählen laßt, was es mit uns – mit Euch – auf sich
hat?! Werden sie dann noch freiwillig und voller
Begeisterung auf die Schiffe drängen?!«
Der Monsignore lächelte verkrampft. »Eine wesentlich
größere Gefahr geht von einem anderen aus, der«, er
verfiel gekonnt in den überlegenen Tonfall eines
gewieften Verschwörers, »dem ›Minderen Propheten‹ zu
nahe steht und ihn beeinflussen könnte, das gesamte
Unternehmen dieses Kreuzzugs abzublasen.«
Er prüfte den Eindruck, den er machte. Die groben Züge
Hugos verfinsterten sich, die rosigen Wangen des
Schweins begannen zu erbleichen. »Und wie ich den
Dickschädel kenne, wird er seine Drohung auch auf eigene
Faust wahrmachen, wenn heute bis zur Mittagsstund das
den Kindern versprochene Wunder nicht eingetreten –
oder…«
»… oder dieser Störenfried mundtot gemacht ist«, setzte
der Eiserne Hugo verständig hinzu. »Wie heißt er, und wo
findet ihn unser Guillem?« ›Das Schwein‹ schnaufte
erregt.
»Er nennt sich ›Vicarius Mariae‹«, wies der Inquisitor
den Fettwanst an. »Fragt nach ihm in Saint-Jean, doch
schont sein Leben«, er wies hinunter zur verborgenen
Bucht des Schweins, »ebenso wie das Eures ›freiwilligen
Helfers‹!«
»Ihr könnt gewiß sein, Monsignore«, erwiderte Guillem
schnaufend, »wir werden die Stückzahl der vereinbarten
Ware nicht unnötig verringern. Diesen beiden Burschen ist
ein Platz an Bord sicher –.«
Er vergewisserte sich, daß sein Kumpan diese Meinung
teilte, »denn hier in Marseille wollen wir sie nicht mehr
sehen!«
Der ›Eiserne Hugo‹ nickte grimmig, und sie geleiteten
ihren Gast hinunter zum Boot.
»Ich schätze Eure Umsicht und Verschwiegenheit, lieber
Étienne«, sagte der Monsignore, als sie sich der
Hafeneinfahrt näherten. »Die nur vorübergehende,
unschöne Fron ihres Freundes Pol würde Melusine nur
unnötig erregen, also schweigt über das Gesehene – zumal
Pol in Kürze wieder bei Euch sein wird.«
Seinem Vertrauen heischenden Blick konnte der kräftig
rudernde Étienne nur durch einverständiges Nicken
zustimmen, auch wollte er Pols Wohlergehen nicht aufs
Spiel setzen. »Hingegen solltet Ihr, Étienne, von nun an
Tag und Nacht in der Nähe der Damen bleiben, das heißt,
die Taverne vorerst nicht mehr verlassen, bis ich Euch das
Zeichen zum Auszug gebe, denn es sind dunkle Mächte
am Werk, die das Leben des Fräuleins de Cailhac
bedrohen. Also sorgt Euch darum, daß sie sich lieber im
›Traurigen Schwertfisch‹ dem Trunk ergibt,
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