Das Kreuz der Kinder
Geschöpf fortzuschleifen, doch fremde
Hände griffen nach dessen Beinen, andere schlugen auf sie
ein.
»Im Namen der heiligen Inquisition!« brüllte hinter ihr
eine Stimme. »Dieses Weib gehört vors Tribunal!«
Mit einem Ruck wurde Melusine fortgerissen, von den
kräftigen Fäusten der ›Erzengel‹ zur Seite gestoßen, fast
vom Platz geprügelt. Dann stand sie vor Luc.
»Verschwindet von hier, Melusine de Cailhac!« fauchte
er sie an. »Schafft sie fort!« wies er seine Mannen an.
»Zurück in die Taverne am Hafen!«
Melusine wurde wie eine Gefangene abgeführt und auf
ein Pferd gesetzt – hinter ihr ging das Kirchlein in Rauch
und Flammen auf.
Der Morgen graute schon im Osten, als Étienne den
brodelnden Topf aus überkochendem Volkszorn und heller
Verzweiflung hinter sich ließ. Auf die Not der fremden
Kinder wußten die ansonsten wenig zimperlichen
Bewohner der Stadt nur mit Aufruhr und blankem Haß zu
reagieren. Piraten und Überfällen der Sarazenen zu
begegnen hatten sie Erfahrung, nicht aber mit dieser
Trägheit, mit dieser Verwahrlosung.
Nachdem sie, brave Bürger wie gemeines Volk, ihr
Mütchen gekühlt hatten, gingen sie zu Bett, die Kinder
verschreckt, in Trauben um ihre Führer, die ›Kleinen
Apostel‹ geschart, auf den Plätzen zurücklassend.
Zwanzig- bis fünfundzwanzigtausend konnte man nicht
einfach totschlagen oder bei lebendigem Leibe
verbrennen, nicht einmal ausräuchern! Deprimiert
bedachte der zur Taverne heimkehrende Étienne die arge
Lage, bestand doch die Drohung, daß noch vielen ein
ähnliches Schicksal blühte, wenn sich die Kreuzzügler
beim nächsten Sonnenuntergang noch immer in der Stadt
sehen ließen.
Sein Blick glitt über die Scharen der zerlumpten Kinder,
die beidseitig des alten Hafenbeckens bis zum Fort zur
linken Hand, wo auch der Leuchtturm emporragte, und
rechts bis zur festungsartigen Kirche von Saint-Jean auf
der Mole hockten, die Beine in das brackige Wasser
hängen ließen oder auf den Kais hingelagert im Schatten
von Taurollen, aufgeschichteten Segeltüchern und
Klumpen von Fischernetzen den erlösenden Schlaf
suchten. Wie hungrige, aus dem Nest gefallene kleine
Vögel gluckten sie zusammen, sperrten die Schnäbel auf,
hatten aber nicht mehr die Kraft, nach Futter oder der
Mutter zu schreien. Sie dauerten Étienne in ihrer
Hilflosigkeit.
Vor der Taverne ›Zum Traurigen Schwertfisch‹ fegte
Alekos, der Schankknecht, die Steine. Die Müdigkeit war
dem Heimkehrenden anzusehen, doch Alekos teilte ihm
ungerührt mit, daß der Herr Inquisitor ihn schon erwarte,
damit Étienne ihn zur Insel Tauris hinüberrudere.
Der nickte ergeben, doch erwachte sofort sein Instinkt:
»Drei gebratene Eierfisch!« verlangte er, und zum
Nachdruck stöhnte er: »Oder ich falle auf der Stelle um!«
Alekos war es zufrieden, den bestellten und bezahlten
Ruderer so günstig eingekauft zu haben, und schob ihn in
den Schankraum.
›Guillem das Schwein‹ ist mit der ersten Fuhre des frühen
Morgens auf Tauris eingetroffen, meist verkohlte Körper
sind die Ausbeute der turbulenten Nacht. Er überläßt Barth
Rotsturz und seinen an ihn geketteten Gehilfen das
Entladen der Barke und steigt hinauf zum Turm seines
Kumpanen.
»Die Ratten fressen uns die Abfälle weg!« beschwert er
sich noch auf der Außenstiege, doch der ›Eiserne Hugo‹
verweist ihm das Lamento.
»Sprich nicht so abfällig von den lieben Goldstücken!«
Guillem fühlt sich falsch verstanden. »Die Consules
haben mich mit der Beseitigung der Kadaver höchst
offiziell beauftragt!« wehrt er sich heftig.
Hugo besänftigt ihn hinter vorgehaltener Hand. »Ich
hab’ ein viel besseres Geschäft: Lebende Kinder!«
Er versetzt seinem Partner einen Knuff, führt ihn in das
Turmgemach und stellt ihm seinen Gast vor. »Monsignore
Gilbert de Rochefort!«
Der Inquisitor hatte sich zwar unter einem ehemaligen
Admiral etwas Ansehnlicheres vorgestellt als den
halslosen, glatzköpfigen, ungeschlachten Fettwanst
Guillem, aber schließlich war er nicht hier, um ein
Abkommen unter Ehrenmännern abzuschließen.
»Laßt uns rechnen«, eröffnete er die Verhandlung mit
jovialem Ton, »um zu sehen, was für alle Seiten dabei
herausspringt?«
Vor der Insel wartete derweil Étienne in der Nußschale,
von der Taverne als Ruderboot zur Verfügung gestellt. Er
war todmüde. Sollte er sich jedoch vom Schlaf
übermannen lassen, würden die hochgehenden Wellen ihn
über Bord werfen. Also stieg
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