Das Kreuz der Kinder
sein,
von der Kette loszukommen. Barth Rotsturz hatte nie den
Wunsch verspürt, sein Dasein nicht an der eisernen Leine
zu verbringen. Außerdem weiß er, und das versucht er den
beiden zu vermitteln, daß selbst ohne Kette, eine Flucht
von Tauris nicht möglich ist; die starke Strömung treibt
jeden Schwimmer ins offene Meer hinaus, wo man
unweigerlich ertrinkt. Das will Barth seinen beiden
liebgewordenen Gefährten nicht antun. Pol und Luc sind
verzweifelt ob dieser freundschaftlichen Fürsorge des
Buckligen. Und nur er weiß, wo Guillem den Schlüssel
versteckt hält.
»Gott hat dich erhört, Stephan«, sprach der Monsignore
weihevoll, und die Erzengel hatten Mühe, ihren lauten
Jubel zu unterdrücken.
»Gelobt sei Jesus Christus!«
Stephan kniete vor Gilbert de Rochefort nieder, der
fortfuhr, indem er auf den ›Eisernen Hugo‹ wies, der auf
seine grimmen Züge ein gewinnendes Lächeln zauberte.
»Dieser fromme Kaufherr hat Erbarmen mit der Not der
Kinder und ist bereit, euch für Gottes Lohn ins Heilige
Land überzusetzen.«
Stephan, der gerettete Prophet, weinte vor Glück. »Ich
weiß nicht, wie ich es Euch danken soll?!«
Sein tränennasser Hundeblick wanderte von der Soutane
des Monsignore zu den Stulpenstiefeln des Händlers und
zurück, wobei er die ungeheuerliche Großzügigkeit des
Angebots bedachte. »Alle?« fragte er zaghaft.
»Nun«, Hugo gab sich als Wolf, der Kreide fuderweise
gefressen, »all mein Hab und Gut sind diese fünf Schiffe.
Ein jedes faßt hundertachtzig Personen, mit etwas Liebe
und Geschiebe vielleicht zweihundertzwanzig,
zweihundertfünfzig.«
Stephan umfaßte die Stulpenstiefel mit inbrünstiger
Heftigkeit. »Zu Ehren unseres Herrn Jesus Christus
werden wir uns klein machen wie Mäuse, wie Fischlein«
er küßte sie – »gelang es IHM mit einem Fang
Zehntausende zu verköstigen, muß es uns umgekehrt
gelingen –.«
Ein herrischer Wink des Inquisitors brachte ihn zum
Schweigen. »Mehr Demut, Stephan!« mahnte er den
aufgeregten Propheten. »Der Erlöser hat Euch seinen
Finger gereicht, greift jetzt nicht nach der ganzen Hand:
Überlaßt es IHM, wie viele seiner Huld gewärtig werden!«
»Für jedes Schiff«, hieb Hugo in die gleiche Kerbe,
»gibt es ein Maß, das zu überschreiten dem Herrn nicht
wohlgefällig sein kann –.«
»Haltet Euch also zu seinen Diensten«, sprach der
Monsignore, unwillig, das Problem hier weiter zu erörtern.
Dabei interessierte ihn durchaus, wie viele der Kinder
jedes Boot fassen konnte, also das gesamte Ladevermögen
der kleinen Flotte. »Verbringt die verbleibende Zeit im
Gebet und bereitet mit ordnender Hand das Besteigen der
Schiffe vor.«
Er reichte Stephan die Hand zum Kuß und verließ nun
doch unter lautem Jauchzen der ›Erzengel‹ den Kreuzgang
von Saint-Jean.
Auch den ›Eisernen Hugo‹ trieb es hinaus. Er ließ
verlauten, daß er Mannschaften anheuern werde:
Bewerber sollten sich im ›Traurigen Schwertfisch‹
einfinden.
Hinter ihm war um den ›Minderen Propheten‹ herum ein
wahrer Freudentaumel ausgebrochen. Alle, die an ihm
gezweifelt hatten, ließen ihn jetzt um so ausgelassener
hochleben. Die ›Kleinen Apostel‹ liefen hinaus, um den
von ihnen angeführten Gruppen die frohe Botschaft zu
verkünden. Bald brandeten Lieder des Jubels und der
Lobpreisung des Herrn in den Gassen auf. Stephan ließ
sich hinaustragen auf seinem Stühlchen unter dem
Baldachin und sonnte sich auf dem Vorplatz von SaintJean in der allen durch seine Fürsprache und Christi Huld
widerfahrene Gnade.
Monsignore Gilbert de Rochefort verließ Marseille, ohne
sich noch einmal in der Taverne sehen zu lassen. Dort
hatte der ›Eiserne Hugo‹ mittlerweile ohne viel
Federlesens allerlei Gelichter angeworben, um die fünf
Barken zu bemannen. Blanche glaubte, den vierschrötigen
Kerl wiederzuerkennen, der sie damals in Saint-Denis um
ihren Lohn gebracht. Wider besseres Wissen verwies ihr
der in seinem Schlaf gestörte Étienne den törichten
Gedanken: sie täusche sich!
Der ›Eiserne Hugo‹ zog mit seinen Leuten los, die
Schiffe von Tauris herbeizuholen.
Auf der Insel hatten Luc und Pol das einsame Herz des
Barth Rotsturz gerührt. Obgleich der Bucklige das
Eingehen auf ihre Bitten als schweren Vertrauensbruch
gegenüber seinen Herren und Ernährern empfand, hatte er
während ›Guillem das Schwein‹ noch schlief – den
Schlüssel zum Schloß der Kette mit einiger Anstrengung
und viel Geschick aus dem
Weitere Kostenlose Bücher