Das Kreuz der Kinder
vorwärts, um sich auf den
hohnlachenden Ripke zu stürzen. Der hat bereits ein neues
Opfer entdeckt, das Mädchen Maria, das in der Gruppe
mit Dörte gegangen war. Angstvoll kauerte sie unter einer
Felsnase, wie in einer natürlichen Grotte, ihre Hilflosigkeit
machte sie für Ripke noch begehrenswerter, wie auch die
Gelegenheit ihm einmalig günstig erschien. Er hatte sie
schon über den Stein gepreßt, nestelte nur noch an seinem
Hosenlatz – als sich hinter ihm ›Armin‹ an Randulf
vorbeidrängte.
»Mauseschwanz Ripke!« rief sie laut. »Laß den Kleinen
lieber drin bei der Kälte!«
Mit vor Wut oder Geilheit rot unterlaufenen Augen fuhr
er herum. Die knochige ›Armin‹ reckte ihm aufreizend ihr
Becken entgegen, als ob sie einen Kampfstier in der Arena
herausforderte. Ripke ließ Miriam fahren und stürzte sich
auf die reglos am Rande des Abgrunds Verharrende. Seine
Arme suchten sie nicht zu umfassen, sondern seine Fäuste
flogen vor, um sie in die Schlucht zu stoßen. Blitzschnell
ließ sich ›Armin‹ fallen, Ripke stach ins Leere, stolperte
über ihren Körper und stürzte mit wildem Aufschrei
vornüber in die Tiefe. Einige Steine prasselten hinter dem
Obristen her, dann war Ruhe. ›Armin‹ von Styrum wurde
wortlos von allen als der neue Führer des Zuges anerkannt.
Niklas, dem ›Heiler‹, war es noch gelungen, den Col du
Mont-Cenis zwar bei Schneefall und in bitterer Kälte zu
überqueren, doch für die nach ihm Kommenden wurde der
Zug über die Alpen zum eisigen Inferno. Stürme kamen
auf, Lawinen fegten die Steilwände hinab und begruben
ganze Gruppen unter ihren Massen. Hinzu traten die
voraussehbaren Folgen mangelnder Vorbereitung.
Hunderte kamen um durch die entfesselten Gewalten der
Natur, stürzten ab, wurden erschlagen. Tausende aber
erfroren, kaum daß sie vor Hunger und Schwäche im
schleppenden Schritt innehielten. Eisregen und Schnee
verwandelten ganze Grüppchen sich in ihrer Not
umarmender, sich aneinander klammernder Kinder zu
bizarren Gebilden am Rand des Paßweges.
›Armin‹ sah sich schnell gezwungen – ähnlich wie ihr
brutaler Vorgänger – sich nur noch um die zu kümmern,
die noch die Kraft besaßen, dem Widerstand des Berges
gegen die Unvernunft der Menschen zu trotzen, deren
Überlebenswillen zäher war als das Toben der Elemente –
und die einfach Glück hatten. Dazu gehörte der
tieftraurige Randulf. ›Armin‹ hatte erwartet, daß der arme
Krüppel sich nach dem Verlust der geliebten Schwester
aufgeben würde, aber Randulf wies seit dem gräßlichen
Vorfall sogar die hilfreiche Bahre zurück und humpelte
aus eigener Kraft hinauf auf die eisige Höhe des Col, jeder
Steinschlag, jedes losgehende Schneebrett donnerte an
ihm vorbei, seine Tapferkeit machte allen Mut. Um
Miriam kümmerte sie sich persönlich, zumal Jacov weit
zurückgefallen war, seitdem er schon bei der Attacke
Ripkes keine Anstalten gemacht hatte, zur Rettung der
Ehre seiner Braut einzugreifen. Miriam fragte auch nicht
länger nach seinem Verbleib, sondern suchte und fand
Schutz gegen die grimmige Kälte in den Armen der
Styrum. Als der Zug bei Susa ins Piemont abstieg, hatte er
weit über die Hälfte derer verloren, die einst Deutschland
verlassen hatten.
Rik van de Bovenkamp, der Murabbi al-Amir, stand auf
der Mauerkrone und schaute gedankenverloren auf das
Meer. Er befand sich in dem Abschnitt des
Befestigungsringes, der rund um die Halbinsel in den
Uferfelsen verlaufend, zwischen dem Hafenbecken und
dem ›burj fil bahar‹ landseitig hinter sich die Ruhe der
Toten schützt, denn hier erstreckte sich der Hang mit den
weißgekalkten Steinen, die allein das Gräberfeld
markierten. Hier lag auch sie, Melusine de Cailhac,
derentwegen es ihn vor nunmehr fast einem Jahrzehnt
nach Mahdia verschlagen hatte. Hier ungefähr hatte er
auch innegehalten, als er aufgewühlt von den auf ihn
einstürzenden Erinnerungen aus der Sala al-Kutub gestürzt
war, nachdem ihm die Sajidda Blanche völlig unerwartet
im Namen des Hafsiden den Ring des Staufers
zurückerstattet hatte. Dieser Goldreif hatte ihm nur Ärger
und Unbill gebracht, er wollte ihn nicht mehr sehen, ihn
endlich loswerden! So hatte er ihn – es war wohl ungefähr
hier, wo er jetzt stand – ins Meer geschleudert – Karim
mußte ihm gefolgt sein, sich den Ort des Aufschlags
zwischen den Felsen ziemlich genau gemerkt haben – -
Während er noch seiner impulsiven Geste nachsann, seine
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