Das Kreuz der Kinder
Raum, dann erblüht die Hoffnungslosigkeit mit
ungeahnter Macht, der Trotz bahnt sich seinen Weg.«
Jetzt legte Rik alle Hemmungen ab, ganz bewußt – und
ohne sich fallen zu lassen. »Wie die Verzweiflung kennt
die Wut kein Besinnen, spürt keine Kälte, weder Hunger
noch Durst! Will das Meer sich nicht öffnen, dann werfen
wir uns eben hinein!«
Erschrocken starrte Kazar Al-Mansur seinen Freund an,
dann wandte er sich abrupt ab. »Ich werde für Euch
beten!« sprach er leise und schritt zu der Tür, die zu
benutzen nur den Bewohnern des Palastes vorbehalten
war, denn sie führte über eine Wendeltreppe direkt
hinunter ins Innere der Moschee. Der Wächter trat zurück
und ließ seinen Herrn eintreten.
aus der Niederschrift von Mahdia
Das Wunder von Marseille
Bericht des Alekos
Schon in den frühen Morgenstunden waren aus der ganzen
Stadt die Kinder zum Hafen geströmt, um zu sehen, wie
Gott endlich nachgeben und das Meer für sie mit
mächtiger Hand teilen würde. Das hätte bereits bei
Sonnenaufgang geschehen sollen. Dann hieß es, gegen
Mittag sei es soweit. So hockten sie in der glühenden
Hitze, warteten und murrten, ob der unzuverlässigen
Voraussagen des Stephan.
Der ›Mindere Prophet‹ hatte seine Getreuen im
Kreuzgang um sich versammelt, die ›Erzengel‹ wie auch
die ›Kleinen Apostel‹ – soweit sie abkömmlich waren.
Ihm fehlte sein ›Vicarius‹. Luc war zwar in der Nacht von
vielen gesehen worden, doch jetzt – wo Stephan seiner
bedurfte – zeigte er sich nicht. Dabei war er es gewesen,
der allen für den heutigen Tag die große Wende verkündet
hatte. Eintreten sollte sie kraft menschlichen Willens,
wenn bis zur Mittagsstund Gott kein Einsehen zeigen
sollte. Stephan war ob dieser Auskünfte verunsichert und
verlangte, wenigstens Étienne zu sehen. Doch die zum
›Traurigen Schwertfisch‹ ausgesandten Erzengel kamen
mit Timdal und dem Bescheid zurück, daß Étienne ein
Gelübde abgelegt habe, in der Taverne eingeschlossen im
Gebet zu verharren, bis der Himmel ein Zeichen gebe, das
aller Not ein Ende bereite. Er empfehle Stephan, dringend
seinem Beispiel zu folgen.
In Wahrheit schlummerte Étienne tief und fest im
freigewordenen Bett, nachdem der Herr Inquisitor eiligst
abgereist war. Étienne hatte zuvor seine Freundin Blanche
und Melusine streng vergattert, ebenfalls in ihren
Zimmern im Obergeschoß zu bleiben und nichts zu
unternehmen, ohne ihn zuvor geweckt zu haben. Über
seine Erfahrungen auf der Insel Tauris schwieg er sich
zwar aus, aber die Bilder ließen ihn trotz aller Müdigkeit
lange keinen Schlaf finden. Er war schon eingeschüchtert
gewesen, als er in dem ›Eisernen Hugo‹ den Kerl
wiedererkannt hatte, der ihn in Saint-Denis zum
Kirchenraub genötigt hatte. Doch als er kurz nach seiner
Rückkehr von Alekos hörte, daß Luc von einer Stunde zur
anderen ›verschwunden‹ sei, dämmerte ihm, daß die
verkappte Drohung des Monsignore durchaus
ernstzunehmen war. Dann war er endlich in Morpheus
gnädige Arme gesunken.
Den ganzen Vormittag hatten die Arbeitssklaven auf
Tauris – zu Barth Rotsturz und Pol war jetzt auch noch
Luc an die Kette gelegt worden – unter der Aufsicht des
›Eisernen Hugos‹ die fünf Schiffe instandgesetzt, die der
Händler all die Jahre für eine große Aufgabe
bereitgehalten, gehegt und gepflegt hatte. Mit ihnen wollte
er schließlich das ersehnte Geschäft tätigen, aber auch
Ehre einlegen. Mit den drei Müllbarken war kein Staat zu
machen, besser war, ganz auf sie verzichten.
Zu diesem Zeitpunkt trifft sich der Kaufherr mit dem
Herrn Inquisitor, um mit seiner Unterstützung und
beredeten Fürsprache Stephan zu Saint-Jean ein
unwiderstehliches Angebot zu unterbreiten.
Auf Tauris legen die Fronarbeiter letzte Hand an die zum
Auslaufen bereiten Schmuckstücke. Zwischen Barth und
den beiden Gefangenen entwickelt sich »Freundschaft«,
soweit das bei den begrenzten Mitteln der Verständigung
mit dem Buckligen herzustellen ist. Pol und Luc haben
ihre bisherige Feindschaft hintangestellt, vordringlich
erscheint ihnen das Entkommen von der Insel, denn –
darin sind sie sich sofort einig – der ›Eiserne Hugo‹ und
das ›Schwein‹ können kaum vorhaben, sie in die Freiheit
zu entlassen – zumindest nicht als lebende Zeugen!
›Guillem das Schwein‹ nutzt die Abwesenheit seines
Kumpanen zu einem Nickerchen. Pol und Luc versuchen,
Barth gestenreich zu überreden, ihnen behilflich zu
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