Das Kreuz des Südens - Exodus aus Europa. Ein Zukunftsroman
hatte sich allerdings schon ein halbes Jahrhundert bis jenseits der Grenze herumgesprochen, daß die US-amerikanischen Behörden machtlos waren, wenn die gefaßten Grenzgänger angaben, nicht aus Mexiko, sondern aus einem anderen Land Süd- oder Mittelamerikas geflohen zu sein. Oder, was bei weitem am häufigsten der Fall war, wenn sie keine Angaben über ihr Herkunftsland machten. Sie bekamen dann eine Vorladung zu einem irgendwann in den nächsten Monaten angesetzten Gerichtstermin, zu dem sie sich doch bitte einfinden sollten, und wurden wieder auf freien Fuß gesetzt – allein: es erschien de facto niemals jemand zu diesem Termin!
Das hatten Wilkins und seine Mitstreiter noch zähneknirschend mitangesehen, doch als im Jahre 2027 der US-amerikanische Präsident – selbst ein gebürtiger Mexikaner von geringer Schulbildung, aber genügend Wählern und Wahlmännern hinter sich – eine Generalamnestie für alle schon im Land befindlichen Illegalen wie auch für all jene, welche noch folgen sollten, erließ, da waren sie mit ihrer Geduld am Ende. Sie begannen nun, aufgegriffene Illegale bei dem geringsten Versuch, Widerstand zu leisten, zu erschießen und hängten ihre leblosen Körper, anderen zur Warnung und Abschreckung, an Pfähle, die sie an den meistbenutzten Schleichpfaden aufstellten, oder sie feuerten, wie in dieser Nacht, in größere Gruppen hinein und ließen die Kadaver an Ort und Stelle, wo sie ihre Kugeln gefällt hatten, liegen.
Seine Freunde, das waren Higgins, Rochelle, Campbell und Flint. Er selbst, Steven Wilkins, war ein recht hagerer Mann von bestimmt einem Meter und neunzig, dabei jedoch außerordentlich drahtig und für sein Alter noch flink und kräftig. Alle waren sie Irakkriegsveteranen - mit Ausnahme Flints, der bei der Polizei gewesen war. Campbell und er hatten sogar im ersten Irakkrieg, dem „Unternehmen Wüstensturm“, gedient und waren den anderen um ein paar Jahre voraus, was sie zu den Wortführern der Truppe machte. Wilkins war 63 Jahre alt. Sein Haar war schon lange schneeweiß – wie seine Bartstoppeln –, aber seine Augen leuchteten wie in seinen jungen Jahren in kräftigem Blau und verliehen dem Gesicht dadurch einen geradezu jugendlichen Charakter.
Sie gingen nun zu der am Boden liegenden Gruppe von Menschen hinüber, da sich einige noch zu bewegen schienen. Er hatte sich oft schon gefragt, ob es vertretbar war, was sie taten, ob ihr Vorgehen zu rechtfertigen sei – und gewiß hatte nicht nur er sich diese Fragen gestellt. War der Krieg, den sie führten, fair? In Anbetracht der Umstände, daß sie nur eine Handvoll Entschlossener waren, denen alljährlich ein Millionenheer an illegalen Einwanderern gegenübertrat, von denen auch nicht selten einige bewaffnet waren und ihrerseits das Feuer eröffneten, war dieser Krieg nicht fair. Aber sie hatten doch Nachtsichtgeräte und moderne Gewehre? Das machte die Sache ein Quäntchen fairer, da war er sich sicher. Trotzdem war es für sie kein leichtes Tagwerk, keine Routine. Sie waren, wenn es auch manchmal so scheinen mochte, keine herzlosen Schlächter.
Es war hier nicht so einfach wie in einem regulären Krieg. Es gab keine eigentlichen Vorgesetzten, auf die man hätte persönliche Schuld abwälzen können. Jeder war sein eigener Herr. Jeder traf seine eigenen Entscheidungen und mußte sie vor sich selbst, vor seinem Gewissen, verantworten. Hier standen Männer – keine Soldaten, die sich in Korpsgeist oder Kadavergehorsam flüchten konnten. Nicht einen gab es unter ihnen, der seine Hände hätte in Unschuld waschen können, doch es verlangte auch niemanden nach dieser scheinheiligen Reinigung. Sie taten nur still das Ihrige, um eine Invasion aufzuhalten und eine Entwicklung umzukehren, die womöglich – nüchtern betrachtet – nicht mehr umzukehren war.
An Ort und Stelle angelangt, zog Rochelle seinen Revolver, um zum Abschluß zu bringen, was sie begonnen hatten. Drei Schwerverwundete waren es noch, die stöhnend ihre Arme reckten, sie flehentlich nach den Hosenbeinen der Männer hin ausstreckten, dieselben zu fassen suchend. Angst auf den Gesichtern. Den bloßen Schrecken auf die Visagen gekritzelt, als ob sie dem Sensenmann soeben begegnet wären, der ihnen immerfort zurief, ihre Zeit sei nun abgelaufen. Aber sie hatten es ja nicht anders gewollt. Sterben würden sie in jedem Fall, aber man konnte ihnen den Tod angenehmer machen, indem man das Leiden verkürzte. „C’est la vie“, flüsterte Rochelle,
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