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Das Kreuz des Südens - Exodus aus Europa. Ein Zukunftsroman

Das Kreuz des Südens - Exodus aus Europa. Ein Zukunftsroman

Titel: Das Kreuz des Südens - Exodus aus Europa. Ein Zukunftsroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johannes Scharf
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hatte wohl Gefallen an der Gesellschaft des Hundes gefunden, weil dieser ebenfalls nicht zu ermüden war.

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    Die ausgedörrten und herabgefallenen Äste der in unregelmäßigen Abständen umherstehenden Zitterpappeln, die den Flußlauf der Enz säumten, knackten, als der alte Mann über sie hinwegschritt. Die Vögel hatten noch das Morgenlied in der Kehle, denn es begann gerade erst zu tagen. Wie beinahe jeden Morgen, seit Roland Häberle vor gut dreißig Jahren von Vaihingen an der Enz nach Niefern-Öschelbronn gezogen war, machte er auch an diesem Tag seinen ausgedehnten Spaziergang am Flußufer, der ihn auf diversen Trampelpfaden durch das übermannshohe Schilf nach Enzberg und von dort aus wieder nach Niefern zurückführte. Es war ein herrlicher Morgen, und es würde ein schöner Tag werden, dessen war er gewiß. Die Route hatte sich binnen der drei Dekaden kaum geändert, so wenig wie die Überzeugungen, welche er in seinem Herzen trug und über all die Jahre bewahrt hatte. Er konnte Menschen nicht verstehen, die gestern gewonnene Einsichten und Überzeugungen morgen, aufgrund einer Nichtigkeit, einer Laune, zugunsten anderer – ja sogar konträrer – Anschauungen über Bord warfen. Solche Menschen waren ihm zutiefst suspekt. Er wollte sie keinesfalls um sich haben; es mißfiel ihm das Wechselhafte, das Charakterlose, das diese Individuen in ihrem Benehmen an den Tag legten. Obwohl er von Beruf Schauspieler gewesen war, sich auf der Bühne verstellen und wandeln konnte, gleich einem Chamäleon, so war er doch immer der verläßliche Kamerad geblieben, mit dem man in der Hölle Pferde stehlen würde, wenn es die Situation erforderte. Diese unsteten Gesellen, an die er eben dachte und von denen es leider auch in Niefern nur so wimmelte, waren ihm sogar richtiggehend verhaßt, denn verließ man sich auf sie, so war man in der Tat verlassen, ehe man sich’s versah.
    Umso mehr schmerzte ihn der Verlust guter, charakterfester Menschen, wie es die Bühlers und Träubeles allesamt waren und es gewiß auch fernerhin bleiben würden. Sie befanden sich jetzt wohl schon längst auf hoher See und hatten die Heimat weit hinter sich gelassen, um am anderen Ende der Welt ein neues Europa miterrichten zu helfen, das seinen einst kulturell hochstehenden Völkern wieder gerecht werden sollte.

    Er konnte daher den Idealismus Martin Bühlers, besonders aber jenen des jungen Erik nachfühlen, der ganz Feuer und Flamme gewesen zu sein schien, als er ihm kurz vor der Abreise noch einmal kurz begegnet war. Denn auch er selbst, Roland Häberle, war der Idee durchaus nicht abgeneigt. Es hätte fürwahr nicht mehr viel gefehlt, und er hätte seine sieben Sachen gepackt. Aber er hing zu sehr an dem Vertrauten, denn auch wenn sich draußen in der modernen Welt ständig alles änderte, sich Verhältnisse auf den Kopf stellten, so daß abends meist andere Gesetzmäßigkeiten galten und andere Experten zu Rate gezogen werden mußten als tags zuvor, so würden doch noch einige Eimer Wasser die Enz hinunterfließen, bis diese ihre Fließrichtung umkehrte, wenn dies überhaupt jemals geschähe. So dachte er und mußte unwillkürlich lächeln, während er auf den Strom sah und das Geplätscher des Wassers genoß, das mit dem fröhlichen Gezwitscher der vielen Vögel und dem Zirpen der Insekten zu einer einzigen glückseligen Empfindung zusammenfloß. Er hielt für einen Moment an, schloß die Augen und sog die noch angenehm kühle Morgenluft ein, die seine Atemwege von den Nasenflügeln bis in die Lungenflügel erfrischte. „Dieses Gefühl ist nicht mit Geld aufzuwiegen“, sinnierte er und setzte strahlend seinen Weg fort.
    Angenehmere Gedanken bemächtigten sich nun seiner, so daß er vergnügt und erhobenen Hauptes durch das ihm so vertraute Schilf schritt. Als er an dem großen, öden Platz vorüberkam, an welchem noch vor etwas mehr als zwei Jahrzehnten das schöne Herrenhaus der alten Papierfabrik gestanden hatte und an dem jetzt nichts weiter war als Dreck, vereinzelte Pioniergräser und illegale Müllhalden jedweden fahrenden Volkes, stieß er einen kleinen Seufzer aus und dachte mit Wehmut an seine glückliche Kindheit in Vaihingen zurück. Er werde im alten Europa sterben, räsonierte er, „und sei es auch morgen schon – ganz egal!“

    ♦

    Es wehte eine steife Brise von Steuerbord her über das Schiff. Auf den Wellenkämmen zeigten sich überall die typischen weißen Spitzen, welche erst bei höheren Windgeschwindigkeiten

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