Das Kreuz des Südens - Exodus aus Europa. Ein Zukunftsroman
zu sehen sind, als Erik, der nun seefest war, mit Stella an Deck umherschlenderte, eine Handschaufel und eine Plastiktüte in der Linken. Er war an diesem Morgen an der Reihe, mit dem Hund Gassi zu gehen, denn bei den Bühlers wechselte man sich ständig ab, was sicher keine schlechte Regel war – „und fair ist es obendrein“, dachte Erik, kraulte das Tier, das ohne Leine bei Fuß ging, mit der Rechten im Genick und tätschelte es vergnügt an der Flanke.
Er mochte wohl eine halbe Runde um den Frachter gedreht haben, da erschien hinter einem der Reefer-Container, in denen sich verderbliche Kost für die lange Reise befand, die stetig gekühlt werden mußte, der Kopf eines rothaarigen Jungen, den Erik auf zehn oder elf Jahre schätzte. Er lachte heiter, wie er die Schäferhündin gewahrte, ging auf sie zu und strich ihr hastig übers Fell, dann tat er einen Sprung zur Seite, dem Stella augenblicklich folgte. So entspann sich ein übermütiges Spielchen zwischen dem fremden Jungen und dem Hund der Bühlers. Erik sah diesem Treiben verwundert zu. Er wußte, daß dieser stürmische Knabe für Stella kein Fremder sein konnte, denn sie hatte gleich wild mit dem Schwanz gewedelt, als sie ihn erblickt hatte. Da hörte er plötzlich eine weibliche Stimme auf Englisch rufen: „Tommi, komm her, augenblicklich! Das ist doch nicht Dein Hund.“ Er blickte in die Richtung, in der er die Sprecherin vermutete. Vor ihm, kaum zehn Schritte entfernt, etwa auf Höhe des Kühlcontainers, hinter welchem der Bub zum Vorschein gekommen war, stand eine junge Frau, die nun nochmals scheinbar ungeduldig den Namen „Tommi“ rief, worauf der kleine Junge kurz zu ihr hinsah und kichernd hervorbrachte: „Gleich, ich komm‘ ja gleich!“
Erik konnte seinen Blick nicht von dem Mädchen abwenden, die ihm beinahe wie eine übernatürliche Erscheinung vorkam. Sie trug das lange, goldblonde Haar offen und hatte nur aus dem Pony zwei kleine Zöpfe geflochten, so daß diese wie ein Diadem wirkten, welches das Haupt einer Prinzessin schmückt. Da trafen sich ihre beiden Blicke. Das Mädchen strahlte unwillkürlich ein warmes, gewinnendes Lächeln aus. Die blauen Augen strahlten. Die junge Engländerin ging auf Erik zu, der sich sehr verlegen fühlte und dem die Plastiktüte mit der Schippe, welche er noch fest in der Linken hielt, mit einem Male so furchtbar peinlich war, daß er sie hinter seinem Rücken verbarg. „Entschuldigt meinen Bruder, er ist eben ein Lausbub und froh, wenn er Spielkameraden findet“, sagte das Mädchen und machte eine wegwerfende Handbewegung, jedoch keinesfalls in jener Weise, in der dies alte Zechkumpanen in Kneipen zu tun pflegen, die sich etwas über Dritte erzählen, sondern in einer manierlichen, vornehmen Art und Weise, so wollte es Erik scheinen. „Ach, das ist doch völlig in Ordnung, auch der Hund freut sich über Spielgefährten“, erwiderte Erik – und um ein Haar hätte er es gestammelt.
Scarlett Strafford nahm ihren kleinen Bruder, der inzwischen herangekommen war, bei der Hand, zog ihre zierlichen Schultern ein wenig hoch, so als wollte sie sagen: „Nochmals Entschuldigung für die Umstände. Wir sehen uns vielleicht wieder, auch wenn ich noch nicht weiß, wann und wo.“ Und tatsächlich hauchte sie ein zärtliches „See you later“, bevor sie mit dem rothaarigen Jungen, auf dessen aufgewecktem, von Sommersprossen übersätem Gesicht immerzu ein schelmisches Grinsen zu liegen schien, zwischen zwei Containerreihen verschwand. Zwar wußte Erik, daß dieses „Man sieht sich später“ im Englischen bloß eine allgemeine Floskel war, der man keine Bedeutung beimessen durfte - und für ihre sanfte Stimme konnte die junge Dame nun wirklich nichts, allein er dachte, als er es hörte: „Jederzeit, ich hoffe es von ganzem Herzen, jederzeit…“ Aber er schwieg und sagte nichts, sondern nickte nur mit dem Kopf und sah den beiden nach.
Den ganzen Tag benahm Erik sich tollpatschig, denn er war in Gedanken vertieft, malte sich dieses und jenes Szenario aus und schämte sich der Tüte und der Handschaufel, die sie doch bestimmt bemerkt haben mußte. Solche Schamgefühle waren ihm vorher noch nicht untergekommen. Auch in der Nacht konnte er kaum einschlafen und lag lange wach, da er immerwährend damit beschäftigt war, sich das Bild des hübschen Mädchens ins Gedächtnis zu rufen, das ihm heute begegnet war. Er sah lange in ihre schönen, blauen Augen und sonnte sich gleichsam in ihrem warmen Lächeln,
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