Das Kriegsbuch
zwei -und- drei -und- vier!«singt – einer Stimme, die nicht so laut ist, daß sie mich stört, aber auch nicht so leise, daß ich seine Gegenwart überhaupt vergessen könnte. Ich weise Shotwell immer wieder darauf hin, daß es doch mehr Spaß macht, wenn man das Spiel zu zweit spielt, aber er hört einfach nicht zu. Wiederholt habe ich ihn auch darum gebeten, allein spielen zu dürfen, doch er schüttelt nur den Kopf. »Warum?« frage ich. »Das Spiel gehört mir«, sagt er dann. Und wenn er schließlich fertig ist, wenn er genug hat, wandern die Chips und der Ball wieder in den Aktenkoffer.
Es ist unfair, daß ich einfach nichts dagegen tun kann. Mir juckt es in den Fingerspitzen: ich will auch mal ran an die Chips.
Shotwell und ich beobachten die Konsole. Shotwell und ich leben hier unter der Erde und beobachten die Konsole. Wenn sich auf der Konsole bestimmte Dinge tun, müssen wir unsere Schlüssel in die passenden Schlösser stecken und herumdrehen. Shotwell hat einen Schlüssel, und ich habe einen Schlüssel. Wenn wir unsere Schlüssel gleichzeitig herumdrehen, fliegt das Vögelchen los – gewisse Schalter werden aktiviert, und das Vögelchen fliegt los. Aber der Vogel fliegt nie los. Schon hundertdreiunddreißig Tage lang ist der Vogel nicht losgeflogen. Unterdessen sind wir beide allein und beobachten uns gegenseitig. Jeder von uns trägt eine 45er, und wenn sich Shotwell komisch benimmt, soll ich ihn erschießen. Wenn ich mich komisch benehme, soll Shotwell mich erschießen. Wir beobachten die Konsole und denken daran, wie wir uns gegenseitig totschießen, und wir denken an den Vogel. Shotwells Verhältnis zu den Chips ist seltsam. Ist es wirklich seltsam? Ich weiß es nicht. Vielleicht ist er nur ein egoistischer Schuft, vielleicht hat er einen
Charakterfehler, vielleicht hat er eine schwere Kindheit gehabt. Ich weiß es nicht.
Jeder von uns trägt eine 45er, und jeder von uns soll den anderen erschießen, wenn er sich komisch benimmt. Was ist ›komisch‹? Ich weiß es nicht. Außer der 45er habe ich – versteckt in meinem Aktenkoffer – noch eine 38er, von der Shotwell nichts weiß, und Shotwell hat eine 25er-Beretta an seine rechte Wade geschnallt, von der ich nichts weiß. Manchmal beobachte ich nicht die Konsole, sondern halte den Blick auf Shotwells 45er gerichtet, aber das ist nur ein Ablenkungsmanöver. In Wirklichkeit beobachte ich seine Hand, wenn sie sich in der Nähe seines rechten Beins bewegt. Wenn er zu dem Schluß kommt, daß ich mich komisch benehme, wird er mich nicht mit dem 45er, sondern mit der Beretta erschießen. Ähnlich gibt Shotwell vor, meine 45er im Auge zu behalten, während er in Wirklichkeit meine Hand beobachtet, die wie unabsichtlich auf meinem Aktenkoffer ruht, meine Hand, die wie unabsichtlich auf meinem Aktenkoffer ruht, meine Hand. Meine Hand, die wie unabsichtlich auf meinem Aktenkoffer ruht.
Zuerst habe ich mir immer große Mühe gegeben, mich normal zu benehmen, ebenso wie Shotwell. Unser Benehmen war übertrieben normal. Alle Regeln der Höflichkeit, Rücksichtnahme, Anrede und persönlichen Angewohnheiten wurden sorgfältig beachtet. Aber dann wurde es klar, daß da irgend jemand einen Fehler gemacht hatte und daß unsere Ablösung ausbleiben würde. Aus Versehen. Aus Versehen sind wir jetzt schon hundertdreiunddreißig Tage hier. Als es klar wurde, daß jemand einen Fehler gemacht hatte, daß wir nicht abgelöst werden würden, legten wir die Regeln großzügiger aus. Die Definition dessen, was »normal« ist, wurde in der Vereinbarung vom 1. Janu ar festgehalten, die von uns »Die Übereinkunft« genannt wird. Die Uniformvorschriften wurden entschärft, und die genaue Festlegung der Essenszeiten entfiel. Wir essen, wenn wir hungrig sind, und schlafen, wenn wir uns müde fühlen. Die rangmäßigen Unterschiede wurden vorübergehend aufgehoben, was eine ganz schöne Konzession Shotwells darstellt, der immerhin Captain ist, während ich nur Leutnant bin. Einer von uns beobachtet ständig die Konsole, im Gegensatz zu früher, wo wir beide ständig auf Wache waren – außer wenn wir beide auf den Beinen sind. Einer von uns beobachtet ständig die Konsole, und wenn sich etwas auf der Konsole tut, dann weckt der eine den anderen auf, und wir drehen gleichzeitig unsere Schlüssel in den Schlössern, und der Vogel fliegt los. Unser Arrangement bewirkt eine Verzögerung von vielleicht zwölf Sekunden, aber das läßt mich kalt, weil mir nicht gut ist, und
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