Das Kriegsbuch
Shotwell läßt es kalt, weil er nicht mehr der alte ist. Nach der Unterzeichnung der Übereinkunft holte Shotwell die Chips und den Gummiball aus seinem Aktenkoffer, und ich begann eine Serie von Beschreibungen zu verfassen, die sich mit in der Natur vorkommenden Dingen auseinandersetzten – wie zum Beispiel einer Muschel, einem Blatt, einem Stein, einem Tier.
Als Papier dienen mir die Wände.
Shotwell spielt Chips, und ich beschreibe Naturformen an den Wänden. Mir jucken die Finger nach den Chips.
Shotwell ist bei einem USAPI-Kurs für kaufmännische Verwaltung bei der Universität Wisconsin eingeschrieben (obwohl wir hier nicht in Wisconsin sind; wir sind in Utah, Montana oder Idaho). Als wir hier herunterkamen, waren wir entweder in Utah, Montana oder Idaho, ich weiß es nicht mehr. Wir sind jetzt schon hundertdreiunddreißig Tage hier – aus Versehen. Die besonders dicken hellgrünen Betonwände schwit zen, und die Klimaanlage schaltet sich in unregelmäßi gen Abständen ein und aus, und Shotwell liest Einführung in die Marketingprinzipien von Lassiter und Munk und macht sich mit einem blauen Kugelschreiber Notizen. Shotwell ist nicht mehr der alte, aber ich weiß das nicht genau. Er gibt sich ruhig und gelassen und liest Einführung in die Marketingprinzipien und macht seine Notizen säuberlich mit einem blauen Kugelschreiber, während ein Drittel seiner Aufmerksamkeit der 38er in meinem Aktenkoffer gilt. Mir ist nicht gut.
Wir sind aus Versehen jetzt schon hundertdreiunddreißig Tage hier. Obwohl wir schon gar nicht mehr wissen, was Versehen und was Absicht ist. Vielleicht ist es beabsichtigt, uns für immer hier unten zu lassen, oder wenn nicht für immer, so doch zumindest für ein Jahr, dreihundertfünfundsechzig Tage lang. Und wenn nicht für ein Jahr, dann zumindest für eine bestimmte Anzahl Tage, die denen da oben bekannt ist und uns nicht – zum Beispiel zweihundert Tage. Oder vielleicht beobachten sie unser Verhalten irgendwie – durch irgendwelche Spürgeräte. Möglicherweise hängt die Zahl der Tage von unserem Verhalten ab. Es kann sein, daß sie zufrieden sind mit uns, mit unserem Verhalten – nicht bis in die letzten Einzelheiten, aber im großen ganzen. Vielleicht ist das Unternehmen sehr erfolgreich, vielleicht ist es ein Experiment, und das Experiment ist sehr erfolgreich. Ich weiß es nicht. Oder vielleicht besteht die einzige Möglichkeit, sonnenhungrige Wesen in die hellgrünen, schwitzenden unterirdischen Betonräume zu bekommen, darin, das System alle zwölf Stunden wechselseitig an- und abzuschalten. Und uns dann eine Anzahl Tage, die nur ihnen bekannt ist und uns nicht bekannt ist, hier unten einzuschließen. Vielleicht, vielleicht. Wir haben gut zu essen, obwohl die tiefgefrorenen enchiladas beim Auftauen feucht werden und der Teufelskuchen sauer und unansehnlich ist. Wir schlafen unruhig. Ich höre Shotwell im Schlaf schreien – er macht Einwände, droht und flucht und weint auch manchmal im Schlaf. Wenn Shotwell schläft, versuche ich das Schloß seines Aktenkoffers aufzubrechen, um an die Chips ranzukommen. Bisher habe ich das noch nicht geschafft. Ebensowenig ist es Shotwell gelungen, das Schloß meines Aktenkoffers aufzubrechen, um an die 38er ranzukommen. Ich habe die Kratzer auf dem glatten Metall gesehen. Ich habe darüber gelacht, in der Latrine, während die hellgrünen Wände ringsum schwitzten und die Klimaanlage flüsterte, in der Latrine. Mir jucken die Finger.
Nach den Chips.
Ich beschreibe an den Wänden Naturformen, kratze den Text mit einem Diamanten in die Fliesen. Der Diamant ist ein zweieinhalbkarätiger Solitär. Ich hatte ihn in meinem Aktenkoffer, als wir herunterkamen. Er war für Lucy bestimmt. Die Südwand des Raumes mit der Konsole ist bereits vollgeschrieben. Ich habe eine Muschel, ein Blatt, einen Stein, ein Tier, einen Baseballschläger beschrieben. Ich weiß, daß der Baseballschläger kein in der Natur vorkommender Gegenstand ist. Und doch habe ich ihn beschrieben. »Der Baseballschläger«, schrieb ich, »besteht in der Regel aus Holz. Er ist durchweg einen Meter lang oder ein wenig länger. Er ist an einem Ende dick und verjüngt sich hin zum anderen, um ein bequemes Zugreifen zu gestatten. Am Ende des Griffes befindet sich gewöhnlich eine kleine überstehende Kante oder Lippe, die ein Ausrutschen verhindern soll.« Meine Beschreibung des Baseballschlägers umfaßte schließlich 4500 Worte, die ich alle mit dem Diamanten in die
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