Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das kritische Finanzlexikon

Das kritische Finanzlexikon

Titel: Das kritische Finanzlexikon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Wierichs
Vom Netzwerk:
Kreditaufnahme absehen, weil sie schlichtweg zu teuer ist. Beides ist zweifellos nicht der Fall. Die Banken haben zurzeit nicht das Problem einer ungenügenden Ausstattung mit Geldmitteln. Im Gegenteil – ihr finanzielles Polster ist ausgesprochen üppig. Die Zentralbanken haben nicht erst mit Beginn der Finanzkrise 2007 damit begonnen, das Liquiditätsfüllhorn auszuschütten (vgl. auch → Bankenaktiva und → Tender ). Darüber hinaus befinden sich die Zinsen weltweit auf Rekordtiefstand.
    Dem Finanzsektor stehen also ausreichende Geldmittel zu niedrigen Zinsen zur Verfügung. Tritt unter diesen Bedingungen eine Kreditklemme auf, so kann man dies dadurch erklären, dass es zu wenige Kreditnehmer gibt, denen eine ausreichende Bonität attestiert werden kann. Bonität bedeutet Kreditwürdigkeit, genauer gesagt: die Fähigkeit, eine Verbindlichkeit komplett zurückzahlen zu können (vgl. → CDO ). Zur Beurteilung dieser Fähigkeit ist ein Blick in die Zukunft notwendig. Eine Kreditklemme in einem bestimmten Land steht also für eine Situation, in der das Bankensystem der Auffassung ist, dieses Land biete zurzeit keine Perspektiven für eine tragfähige Bonität seiner Kreditnehmer. Es wird als »zu wenig dynamisch« und »nicht innovativ« angesehen. Ganz ohne Zweifel, die sogenannten Euro-Krisenstaaten genießen zurzeit diesen Ruf.
    Wenn dies aber alles richtig ist, wenn das Finanzsystem einerseits über eine üppige finanzielle Ausstattung verfügt, die Bonitätsfrage in diesen Ländern andererseits negative Antworten hervorruft – was tun die Banken denn mit ihrem Geld? Antwort: Sie stecken es in vermeintlich lukrativere Geschäftsfelder. Und an dieser Stelle kommt wieder das → Investmentbanking ins Spiel, bei dem es um Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Kapitalbeschaffung von Großunternehmen und Staaten, um Firmenübernahmen sowie den Absatz und den schwungvollen Eigenhandel mit Wertpapieren aller Art geht.
    Was macht diese Tätigkeiten so lukrativ? Ganz einfach: Es geht hier um hohe Summen, Klienten sind große und finanzstarke Unternehmen sowie hochvermögende Privatkunden. Die Branche kann mathematisch austarierte Produkte erfinden, bei denen die Anleger trotz eines plakativ herausgestellten Nutzens Restrisiken übernehmen müssen, während die Bank ihr Risiko ausschaltet und darüber hinaus aus Vermarktung und Handel der → Produkte satten Profit zieht. Alle Betätigungsfelder können ferner durch eine relativ geringe Anzahl ausgesuchter »Spezialisten« gemanagt werden. Große Handelsvolumina führen des Weiteren über die auf der Basis von Prozent- beziehungsweise Promilleanteilen ermittelten Provisionsbeteiligungen zu hohen absoluten Gewinnen in Euro, Pfund oder US-Dollar. Der Lohn für die ausgesuchten »Spezialisten« sind die in der Investmentbranche üblichen immens hohen → Boni .
    Völlig anders sieht es hingegen beim herkömmlichen Kreditgeschäft aus. Die zur Disposition stehenden Summen sind im Regelfall (nach den gängigen Branchenmaßstäben) sehr klein; hier geht es oft um nur Summen im sechsstelligen Bereich. Die Arbeitsschritte im Zusammenhang mit einer solchen Kreditvergabe sind jedoch mit hohem Aufwand verbunden: Bonitätsprüfung, Sicherheitenbestellung, laufende Kreditüberwachung nach Auszahlung.
    Aus dieser Sicht heraus ist es allemal lohnender, einen Großkonzern bei einer Kapitalerhöhung im Volumen von 500 Millionen Euro zu begleiten, bei der man eine Menge Aktien für den eigenen Bestand kaufen und auf Kursgewinne spekulieren kann, als 5 000 Kredite über jeweils 100 000 Euro an Existenzgründer, kleine Unternehmen oder den Handwerker von nebenan zu vergeben. Ebenso lohnt es sich eher, Kredite bei der → Europäischen Zentralbank (EZB) zu einem Zinssatz von 0,5 Prozent aufzunehmen und dieses Geld in eine 5,5-Prozent-Staatsanleihe zu stecken, als die Mittel in Form von Konsumentendarlehen an Verbraucher weiterzuleiten. Staatsanleihen, so die momentan vorherrschende Auffassung in Finanzkreisen, werden durch das massive Ankaufprogramm der EZB (→ quantitative easing ) schon nicht so schnell an Wert verlieren (oder sogar noch zulegen), also kann die Bank im obigen Beispiel von einer gesicherten Zinsmarge in Höhe von 5 Prozent ausgehen. Kredite sind dagegen personalintensiv und mit höherem Bonitätsrisiko behaftet.
    Auch das Phänomen einer Kreditklemme konfrontiert uns also wieder mit den strukturellen Problemen des Finanzsektors.

L
    Coole und Gauner oder coole

Weitere Kostenlose Bücher