Das krumme Haus
Schulter.
»Wo ist Josephine? Sie kam doch mit mir.«
Nannie schnalzte abfällig mit der Zunge.
»Sie wird wohl an den Türen horchen und in das dumme Büchlein, das sie immer mit sich herumschleppt, Eintragungen machen. Sie sollte in die Schule gehen und gleichaltrige Spielgefährten haben. Miss de Haviland findet das auch; aber der alte Herr meinte, zuhause wäre sie am besten aufgehoben.«
»Er hatte sie wohl sehr gern«, antwortete ich.
»O ja. Er hatte alle sehr gern.«
In diesem Augenblick kam Sophia schnell herein.
»O Charles!«, rief sie. »Ach, Nannie, ich bin so froh, dass er gekommen ist.«
»Das dachte ich mir.« Nannie ergriff einige Töpfe und Pfannen und verschwand damit in eine Spülküche. Sie schloss die Tür hinter sich.
Ich stand auf und trat zu Sophia, legte die Arme um sie und zog sie an mich.
»Liebling, du zitterst ja. Was ist los?«
»Ich habe Angst, Charles. Ich habe Angst.«
»Ich liebe dich«, sagte ich. »Wenn ich dich fortbringen könnte…«
Sie löste sich von mir und schüttelte den Kopf.
»Unmöglich. Wir müssen durchhalten. Aber du verstehst mich sicher… es ist ein schreckliches Gefühl zu wissen, dass jemand in diesem Hause, jemand, mit dem ich jeden Tag spreche, ein kaltblütiger, berechnender Giftmörder ist.«
Darauf wusste ich keine Antwort. Einem Menschen wie Sophia kann man keinen sinnlosen Trost spenden.
»Weißt du, wovor ich am meisten Angst habe?«, hauchte sie. »Dass wir es vielleicht nie erfahren werden…«
Ich konnte mir gut vorstellen, wie quälend das sein würde, und es erschien mir durchaus wahrscheinlich, dass es nie herauskommen würde, wer den alten Leonides getötet hatte. Aber in diesem Zusammenhang fiel mir auch ein, was ich Sophia hatte fragen wollen.
»Sag mir, Liebes, wie viele Leute hier im Hause wussten, wo dein Großvater die Eserintropfen aufbewahrte, und wer wusste, dass sie giftig sind, und in welcher Dosis sie gefährlich werden können?«
»Ich verstehe, worauf du hinauswillst, Charles. Aber das bringt leider nichts. Wir wussten nämlich alle Bescheid.«
»Nun ja, im großen Ganzen…«
»Nein, genau. Einmal waren wir alle bei Großvater zum Kaffee. Er versammelte gern die ganze Familie um sich. Damals machten ihm seine Augen besonders zu schaffen. Brenda holte die Flasche und träufelte ihm einen Tropfen in jedes Auge. Da fragte Josephine, die immer alles wissen will: ›Warum steht auf der Flasche: Augentropfen, nur äußerlich anzuwenden? Was würde geschehen, wenn du sie austrinkst?‹ Großvater lächelte und sagte: Wenn Brenda sich einmal irrt und mir anstatt Insulin die Augentropfen einspritzt, dann laufe ich wahrscheinlich ganz blau an, schnappe nach Luft und sterbe, weil mein Herz nicht sehr stark ist.« Josephine sagte: ›Hu‹, und Großvater fuhr fort: ›Deshalb müssen wir aufpassen, dass Brenda das Insulin nicht mit dem Eserin verwechselt, nicht wahr?‹ Sophia machte eine Pause. »Wir waren alle dabei. Verstehst du? Wir hörten es alle!«
Ich verstand. Ich hatte mir gleich gedacht, dass ein wenig Kenntnis vorauszusetzen war. Jetzt aber ging mir auf, dass der alte Leonides die Anweisung für den Mord selbst gegeben hatte. Der Mörder hatte gar keinen Plan ausarbeiten müssen. Ich holte tief Atem. Sophia, die meine Gedanken offenbar erriet, meinte: »Schrecklich, nicht?«
Langsam sagte ich: »Weißt du, Sophia, ich glaube, du hast Recht. Brenda kann es nicht gewesen sein. Sie konnte dieses Verfahren doch gar nicht wählen, wenn ihr alle dabei wart.«
»Sie ist aber in gewisser Weise sehr dumm.«
»So dumm denn doch nicht.«
Sophia trat ein paar Schritte zurück.
»Du möchtest nicht, dass Brenda es getan hat, nicht wahr?«
Was sollte ich darauf antworten? Ich brachte es einfach nicht über mich zu sagen: ›Doch, hoffentlich hat sie es getan.‹ Warum nicht? Nur wegen des Gefühls, dass Brenda ganz allein stand und dass die ganze Familie eine geschlossene Front gegen sie bildete? Aus Ritterlichkeit? Aus Mitleid mit dem Schwächeren? Mit dem Wehrlosen? Ich dachte daran, wie sie in ihrer teuren Trauerkleidung auf dem Sofa gesessen hatte, dachte an die Hoffnungslosigkeit ihrer Stimme, an die Angst in ihren Augen.
Nannie kehrte zu gelegener Zeit aus der Spülküche zurück. Ich weiß nicht, ob sie eine gewisse Spannung zwischen Sophia und mir spürte, jedenfalls sagte sie missbilligend: »Nicht immer von Morden und dergleichen reden. Das sollte man der Polizei überlassen, die sich mit so grässlichen
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