Das krumme Haus
der Anwalt mich. »Ich hielt es für meine Pflicht, die Tatsachen zuerst der Polizei zu unterbreiten und nichts ohne ihre Zustimmung zu unternehmen. Wenn ich mich nicht irre…« Er sprach etwas stockend. »Bin ich recht unterrichtet, dass zwischen Ihnen und Miss Sophia Leonides eine nähere Beziehung besteht?«
»Ich möchte sie heiraten«, gab ich Bescheid. »Aber Sophia hält es für richtiger, unsere Verlobung vorläufig noch nicht bekannt zu geben.«
»Sehr vernünftig«, nickte Gaitskill.
Ich war anderer Ansicht; aber dies war nicht der Moment, das zu erörtern.
»In diesem Testament«, sagte Gaitskill, »datiert vom neunundzwanzigsten November vorigen Jahres, vermacht Mr Aristide Leonides seiner Frau hunderttausend Pfund und sein gesamtes übriges Vermögen und sämtliche Besitztümer seiner Enkelin Sophia.«
Mir blieb der Mund offen stehen. Das hatte ich nun wirklich nicht erwartet.
»Wie merkwürdig«, stieß ich hervor. »Weshalb?«
»In dem Begleitbrief führt er seine Gründe an«, antwortete mein Vater. Er ergriff einen Briefbogen, der vor ihm lag. »Haben Sie etwas dagegen, Dr. Gaitskill, wenn ich meinem Sohn den Brief zu lesen gebe?«
»Tun Sie, was Sie für richtig halten«, erwiderte der Anwalt kalt. »Der Brief erklärt wenigstens in gewisser Weise Mr Leonides’ sonderbare Handlungsweise.«
Mein Vater reichte mir den Brief. Die kleine Handschrift verriet Charakter und Individualität. Es war keineswegs die Handschrift eines Greises; nur die sorgfältig hingemalten, wie gestochen wirkenden Buchstaben zeigten, dass der Schreiber einer anderen Generation angehörte.
Der Brief lautete:
Lieber Gaitskill,
Sie werden erstaunt sein, das Beiliegende zu erhalten, wahrschei n lich auch beleidigt. Aber ich habe meine besonderen Gründe, auf eine Weise zu handeln, die Ihnen unnötig geheimniskrämerisch erscheinen mag. Ich habe von jeher an das Individuelle geglaubt. In jeder Familie gibt es (das habe ich in meiner Kindheit erfahren und nie vergessen) einen starken Charakter, und gewöhnlich ist es Sache dieses Menschen, für die übrigen Mitglieder der Familie zu sorgen und alle Lasten zu tragen. In meiner Familie war ich diese Person. Ich kam nach London, ließ, mich hier nieder, unterstüt z te meine Mutter und meine betagten Großeltern in Smyrna, en t riss meinen Bruder den Klauen des Gesetzes, bewahrte meine Schwester vor einer unglücklichen Ehe und rettete ihr die Freiheit und so weiter. Es hat Gott gefallen, mir ein langes Leben zu schenken, und ich hatte die Möglichkeit, für meine Kinder und Enkel zu sorgen. Viele sind vor mir ins Grab gesunken; die Ü b rigen sind, wie ich gern sage, unter meinem Dach versammelt. Wenn ich sterbe, muss die Last einem andern Menschen übertr a gen werden. Ich habe lange überlegt, ob ich mein Vermögen mö g lichst gerecht unter meine Lieben aufteilen soll; aber wenn ich das täte, würde sich wohl doch keine Gleichheit ergeben. Die Me n schen sind von Natur aus nicht gleich, und man muss das Gleic h gewicht herstellen, indem man die schicksalsmäßige Ungleichheit ausbalanciert. Mit andern Worten, jemand muss mein Nachfo l ger werden, muss für die andern die Bürde der Verantwortung übernehmen. Nach sorgfältiger Beobachtung bin ich zu dem Schluss gelangt, dass keiner meiner Söhne diese Verantwortung zu tragen vermag. Mein geliebter Sohn Roger hat keinen G e schäftssinn, und er ist zu gutmütig und zu impulsiv, um Urteil s kraft zu besitzen. Mein Sohn Philip ist innerlich so unsicher, dass er dem Leben ausweicht und sich in sich zurückzieht. Mein Enkel Eustace ist noch sehr jung und ich glaube auch nicht, dass er später genügend Überlegenheit und die notwendige Urteilskraft haben wird. Er lässt sich allzu leicht beeinflussen. Nur meine Enkelin Sophia scheint über die erforderlichen Eigenschaften zu verfügen. Sie hat Verstand, Urteilskraft, Mut, ist vorurteilsfrei, anständig und großmütig. Ihr vertraue ich das Wohlergehen der Familie an, auch das Wohlergehen meiner guten Schwägerin E dith de Haviland, die sich in den Dienst meiner Familie gestellt hat, wofür ich ihr sehr dankbar bin.
Dies als Erklärung für das beiliegende Dokument. Schwieriger ist es, Ihnen, mein alter Freund, zu erklären, warum ich Ihnen diese Enttäuschung bereite. Ich fand es klüger, allen Mutmaßu n gen über meine letztwillige Verfügung vorzubeugen, und ich habe nicht die Absicht, meine Familie wissenzulassen, dass ich Sophia zur Erbin meines Vermögens
Weitere Kostenlose Bücher