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Das Kultur-Spiel

Das Kultur-Spiel

Titel: Das Kultur-Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Banks
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dass er an der Reihe war, und baten den Schiedsrichter, ihn daran zu erinnern.
    Gurgeh stellte die Figur hin. Es war, als sehe er zwei Bretter, eines hier vor sich und eines, das in der vergangenen Nacht in sein Gehirn eingraviert worden war. Die anderen Spieler machten ihre Züge, zwangen Gurgeh nach und nach in ein kleines Gebiet des Brettes zurück. Er hatte nur noch zwei freie Figuren außerhalb desselben, und sie wurden gejagt und flohen.
    Als es kam, wie er gewusst hatte, dass es kommen würde, ohne dass er sich das Wissen hatte eingestehen wollen, erweckte etwas – er fand kein anderes Wort dafür als ›Offenbarung‹ – in ihm den Wunsch zu lachen. Tatsächlich lehnte er sich mit nickendem Kopf auf seinem Sitz zurück.
    Der Priester sah ihn erwartungsvoll an, als rechne er damit, der dumme Mensch werde endlich aufgeben. Aber Gurgeh lächelte zu dem Apex hinüber, wählte die stärksten Karten aus seinem schwindenden Vorrat, deponierte sie bei dem Schiedsrichter und machte seinen nächsten Zug.
    Er setzte allein darauf, dass seine Gegner zu sehr darauf bedacht sein würden, das Spiel schnell zu gewinnen. Offensichtlich hatten sie unter sich eine Abmachung getroffen, nach der dem Priester der Sieg zufallen würde, und Gurgeh nahm an, die übrigen würden nicht ihr Bestes geben, wenn sie für jemand anders kämpften; es würde nicht ihr Sieg sein. Der Sieg würde ihnen nicht gehören. Natürlich brauchten sie gar nicht besonders gut zu spielen; die Überzahl allein hätte ihre Gleichgültigkeit kompensieren müssen.
    Aber die Züge konnten zur Sprache werden, und Gurgeh glaubte, diese Sprache jetzt gut genug zu beherrschen, um in ihr lügen zu können… So machte er seine Züge, und an einer bestimmten Stelle schien ein Zug zu verraten, dass er aufgegeben hatte. Dann deutete er mit dem nächsten Zug an, dass er entschlossen sei, einen von mehreren Spielern mit sich ins Verderben zu reißen… oder auch zwei… oder einen ganz anderen… Die Lügen gingen weiter. Es war nicht etwa eine einzige Botschaft, sondern eine Folge von sich widersprechenden Signalen, die die Syntax des Spiels hierhin und dahin zerrten, bis das allgemeine Einverständnis, das die anderen Spieler unter sich erzielt hatten, mürbe wurde und riss.
    Mitten darin machte Gurgeh ohne jede Vorankündigung ein paar Züge, die auf den ersten Blick inkonsequent und sinnlos erschienen, bedrohte erst ein paar wenige, dann mehrere, dann die meisten Truppen-Figuren eines bestimmten Spielers, aber um den Preis, dass seine eigenen Streitkräfte verwundbarer wurden. Während dieser Spieler in Panik geriet, tat der Priester das, worauf Gurgeh sich verlassen hatte: Er stürmte zum Angriff. Bei den nächsten paar Zügen verlangte Gurgeh, dass die Karten aufgedeckt würden, die er dem Funktionär gegeben hatte. Sie wirkten wie Minen in einem Besitz-Spiel. Die Streitkräfte des Priesters wurden auf unterschiedliche Weise vernichtet, demoralisiert, geblendet, hoffnungslos geschwächt oder Gurgeh beziehungsweise – in nur wenigen Fällen – einigen der anderen Spieler ausgeliefert. Dem Priester blieb fast nichts mehr. Seine Truppen waren über das Brett verstreut wie welke Blätter.
    Gurgeh beobachtete in dieser Verwirrung, wie die anderen, ihres Führers beraubt, sich um die Reste der Macht stritten. Einer geriet in ernstliche Schwierigkeiten. Gurgeh griff an, vernichtete den größten Teil seiner Streitkräfte und nahm den Rest gefangen, und dann ließ er es nicht zu einer Umgruppierung kommen, sondern griff unausgesetzt weiter an.
    Später stellte er fest, dass er in diesem Augenblick an Punkten immer noch zurückgelegen hatte, aber die Dynamik seines Aufstieg aus dem Nichts trug ihn mit sich fort und verbreitete eine unvernünftige, hysterische, beinahe abergläubisch heftige Panik unter den anderen.
    Von diesem Punkt an machte Gurgeh keine Fehler mehr. Er eroberte das Brett in einer Kombination aus wildem Dahinstürmen und Triumphzug. Spieler, die ihm durchaus gewachsen gewesen wären, standen wie Idioten da, während Gurgehs Streitkräfte über ihre Gebiete tobten, Boden und Material verschlangen, als könne nichts einfacher und natürlicher sein.
    Gurgeh beendete das Spiel auf dem Brett des Ursprungs vor der abendlichen Sitzung. Er hatte sich gerettet; er war nicht nur zum nächsten Brett aufgestiegen, er hatte die Führung. Der Priester, der das Brett mit einem Ausdruck betrachtet hatte, den Gurgeh auch ohne seine Lektionen in azadischer Mimik als

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