Das kurze Glueck der Gegenwart
Zuchterfolge sind legendär, die Besuchermassen strömen und die Planungen für eine große Erweiterung und ein gigantisches neues Nachttierhaus laufen auf Hochtouren. Zugleich aber reichen die Biographien der wichtigsten Angestellten weit zurück in die Vorkriegszeit, werfen Schuld und Verdrängung ihre Schatten über den triumphalen Wiederaufbau, insofern steht der Zoo für ganz Nachkriegsdeutschland.
Schiefhals’ Betreuer, der kantige und schrullige Tierpfleger Karl-Walther Kadamecki, genannt Papageno, liebte einst in diesem Zoo. Er liebte Jali, die Halbjüdin aus Litauen, eine Künstlerin, eine Schönheit, die ihn eines Tages aus seiner biederen Reisebüroexistenz riss, um von ihm Deutsch zu lernen und ihm »Amorisch« beizubringen. In langen Rückblenden schaltet der Roman in die Nazi-Zeit und erzählt die Geschichte einer tragisch scheiternden Beziehung.
Schon in seinem späten Debüt »Die Verscheuchte« (1998) schreibt Kluger, Jahrgang 1948, auf provozierend leichte, ja unterhaltsame Weise über die Paradoxien im Umgang mit der traumatischen Erinnerung an die Judenvernichtung, über die prekäre Identität jüdischer Überlebender und Nachgeborener und die grotesken Auswüchse des Philosemitismus als Entlastungsstrategie. Der weltbekannte jüdischer Dramatiker George Zwikatz, der seit Jahren unter einer Schreibblockade leidet, unternimmt gemeinsam mit einer jungen deutschen Kollegin den aberwitzigen Versuch, das definitive Stück über den Holocaust zu schreiben. Doch die geplante theatralische Katharsis, bei der der Aufführungsraum selbst zur Gaskammer werden soll, endet tödlich. Damit treibt Kluger eine Gedenkkultur auf die Spitze, die auf restloser Identifikation mit den Ermordeten beruht. Der Dramatiker im Roman, der seine Familie im Holocaust verlor, wird nachträglich selbst zum Opfer eines kollektiven Reinigungsrituals. Was für jüdische wie nichtjüdische Leser in seiner Drastik gleichermaßen schwer erträglich wäre, wird aufgefangen durch die freche und gewitzte Erzählerfigur Tali, die siebzehnjährige Tochter des Dramatikers, die als junge Jüdin in Berlin zwischen der erdrückenden Last der Vergangenheit und der Annahme ihres familiären Erbes ihre Identität sucht: »Ich wollte wissen, wo ich herkam. Andere Kinder hatten Großmütter, Großväter, Onkels und Tanten. Ich nicht. Ich hatte meinen Vater, den Autor eines dreiundfünfzigstrophigen Gesangs über das Verschwinden von Großmüttern, Großvätern, Onkels und Tanten. Von diesem Werk lebten wir. Dachte ich. Bis ich eines Tages auf einem Kontoauszug das Wort ›Wiedergutmachung‹ las.«
Tali will nicht allein davon und dafür leben, Opfer zu sein. »Die Verscheuchte« erzählt die Geschichte einer weiblichen Emanzipation von einem übermächtigen Vater und dessen kanonisierter Deutung der eigenen jüdischen Identität. Talis Vater George Zwikatz verdankt die deutsche Öffentlichkeit das maßgebliche Epos über die Schoah. Der Teenager, einst benannt nach der im Vernichtungslager ermordeten Schwester des Vaters, besteht auf seiner Autonomie und wehrt sich gegen die Festlegung auf die Opferrolle, die der Vater mustergültig erfüllt und mit der er der Gesellschaft eine willkommene Gelegenheit zu exemplarischer Entlastung bietet. Tali dagegen schneidert Krawatten, auf denen der Judenstern und die Aufschrift »I was in Auschwitz« prangen, und wird als Volksverhetzerin verhaftet.
Am 11. Oktober 1998 hielt der Schriftsteller Martin Walser in der Frankfurter Paulskirche seine Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Darin sprach er vom Überdruss an den Auschwitz-Bildern in den Medien, der »Dauerrepräsentation unserer Schande«, was auf die heftige Kritik von Ignaz Bubis, dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, stieß. Bubis nahm Anstoß an Sätzen wie den folgenden: »Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung. Was durch Ritualisierung zustande kommt, ist von der Qualität des Lippengebets.« Klar, dass Kluger in der »Verscheuchten« auch auf die geschichtspolitische Debattenlage reagiert.
Eine der unheimlichsten Gestalten in Klugers Menschenzoo der »Abwesenden Tiere« ist der »Professor für Schmerzforschung«, der in seinem abgeriegelten Speziallabor mysteriöse Experimente an augenkranken Tieren unternimmt, die man des Nachts schreien hören kann. Die Mutmaßungen der Kollegen über
Weitere Kostenlose Bücher