Das kurze Glueck der Gegenwart
Walser, Enzensberger und Bachmann.
Der Kulminationspunkt dieser Entwicklung war 1999 erreicht, mit dem Gesprächsband »Tristesse Royale«, der ein Berliner Nobelhotel zu einem Gedächtnisort der Gegenwartsliteratur machte. Hier trafen sich an einem Wochenende im April fünf junge Mehr-oder-weniger-Schriftsteller in der Executive Lounge im vierten Stock mit Blick auf das Brandenburger Tor, um »ein Sittenbild unserer Generation zu modellieren«, so Joachim Bessing im Vorwort. Der simple Mitschnitt eines Wochenendes als Anatomie des Zeitgeistes: Mehr überschätzen kann man sich eigentlich nicht. Dabei waren außer Bessing, der dann 2001 den Roman »Wir Maschine« veröffentlichte, die Schriftsteller Benjamin von Stuckrad-Barre (»Soloalbum«, 1998), Christian Kracht, Eckhart Nickel (der als Journalist für »Tempo« gearbeitet und Erzählungen geschrieben hatte) sowie Alexander von Schönburg, der heute vor allem als Celebrity-Berichterstatter bekannt ist. Als Quelle für den Geist der späten Neunziger ist dieses Dokument tatsächlich von hohem Wert, allerdings nicht für die Generation, sondern vielmehr für den damals die Medien und den Literaturbetrieb prägenden Autorentyp. Bezeichnenderweise ist im ganzen Buch von Literatur überhaupt nie die Rede, es geht um Hemdenmode, Werbespots, um die Unterschiede des Nachtlebens in Berlin, Hamburg, Köln und Frankfurt, um Politik und Fußballclubs, schließlich um pure Dekadenz. Von Schönburg bringt die Parallele zum orientierungslos-verlorenen Fin de Siècle auf den Punkt: »Unsere einzige Rettung wäre eine Art Somme-Offensive. Unsere Langeweile bringt den Tod. (…) Wäre das hier Cambridge und nicht Berlin und wäre es jetzt der Herbst des Jahres 1914 und nicht der Frühling des Jahres 1999, wären wir die Ersten, die sich freiwillig meldeten.«
Dieses Adlon-Treffen, bei dem die ästhetizistischen Positionen der Jahrhundertwende noch einmal nachgespielt wurden, passte schon von seinem Ort her in die Zeit: 1907 erbaut, im Zweiten Weltkrieg zerstört, war das Luxushotel 1997 wieder eröffnet worden, inmitten der erregten Debatten über den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses, die schließlich in den Bundestagsbeschluss von 2002 mündeten. Die anfängliche Angst vor der Geschichte war längst einer Sucht nach der verlorenen Zeit gewichen, einer Zeit, als Preußen noch glänzte und Schriftsteller statt mit Kleist-Preisen mit Eisernen Kreuzen ausgezeichnet werden konnten.
Vor allem aber geht es in »Tristesse Royale« um Rockmusik, ständig. Rock »ist die ewige Hölle«, die »Angst, dass alles so bleiben soll, wie es ist«, »Rock ist Kloster«, Rock ist die ewige »Bubenband« etc. Und trotzdem reden die fünf über beinahe nichts anderes. Rock, das sind die anderen, wohl auch die »echte« Literatur, die eben genauso zeitlos sein will. Mit dem Quintett im Berliner Adlon hat die Popbewegung ihren Höhepunkt überschritten, da sich hier zeigt, wie ein um permanente Distinktion, um ständige Abgrenzung von der Masse bemühtes Denken nicht mehr in der Lage ist, einen an Qualität und Werten orientierten Diskurs zu führen. In der Konsequenz führt ein so verstandenes Zeitgeist-Pop-Denken zum Ende der Kritik und damit auch zum Ende der Literatur.
Erst in den Nullerjahren wird Berlin jenseits dieser Projektionen als Stoff wieder frei. Berlin ist einfach eine lebendige Stadt, in der viel Neues passiert, in der viel Altes herumsteht und Entscheidungen getroffen werden – politische und ästhetische.
Ulrich Peltzer hat das auf großartige Weise in seinem Roman »Teil der Lösung« (2007) vorgeführt. Sein Berlin muss sich nicht mehr mit den Lasten des Dritten Reichs herumschlagen. Seine politischen Aktivisten haben einen Feind im Präsens: das System, den Staat, die Macht. Die verspielt-dadaistischen Aktionen einer kleinen Gruppe von Globalisierungsgegnern schlagen nach und nach in Terror um, unter freundlicher Mithilfe eines V-Mannes vom Verfassungsschutz.
Seine beiden Hauptfiguren, das Liebespaar Nele und Christian, schlagen den Bogen vom Terror der siebziger Jahre in die Gegenwart. Christian, eine verkrachte Journalistenexistenz, der nebenbei an einem Roman arbeitet, recherchiert für eine Geschichte über Terroristen der Roten Brigaden, die einst in Frankreich Zuflucht fanden. Nele kämpft, zunehmend radikalisiert, an der Antiglobalisierungsfront. Beide leben in Berlin, einer Stadt, in der der Konflikt zwischen Freiheit und Individualismus einerseits und den
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