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Das kurze Glueck der Gegenwart

Das kurze Glueck der Gegenwart

Titel: Das kurze Glueck der Gegenwart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Kaemmerlings
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seine Machenschaften und die wahren Ziele der grausamen Forschungen lassen eine dämonische Unterwelt in den Roman hineinragen – ganz ähnlich wie bei Beyer und Hettche. Zusätzlich wird der Professor mit allen erdenklichen antisemitischen Klischees ausgestattet: Er ist alterslos und von unbegrenzter Anpassungsfähigkeit, unermesslich reich und hat Beziehungen rund um den Globus. Tatsächlich ist der Professor Jude und auf tragische Weise verstrickt in das Schicksal Jalis, der Geliebten Kadameckis. Doch der vermeintliche Täter ist in Wahrheit ein Opfer, für dessen Unglück es keine Linderung gibt. Für die angewandte Schmerzforschung, die er betreibt, quält er keine Tiere, sie ist in Wahrheit ein bestialischer und verzweifelter Selbstversuch.
    Mit »Abwesende Tiere« erreichte die deutschsprachige Gegenwartsliteratur einen Höhe- und Endpunkt, was die Kontamination der Gegenwart durch die nationalsozialistische Vergangenheit betrifft. Parallel aber entwickelte sich das so vergangenheitsbesessene Berlin zu dem Ort, an dem sich die Gegenwart besonders verdichtete. Und zwar gerade gegen den ganzen historischen Ballast. Die Love Parade war das popkulturelle Symbol einer Bewegung, die das Hier und Jetzt feierte und von unseligen Traditionen nichts wissen wollte: Massenaufmärsche und kollektive Ekstase neben dem Reichstag – wo ist das Problem? Rainald Goetz, der – wie seine damaligen Verlagskollegen Thomas Hettche, Norbert Gstrein und Marcel Beyer – aus der avantgardistischen theorielastigen Suhrkamp-Kultur kam, machte jetzt Bücher wie »Rave« (1998) oder »Celebration« (1999), die versuchten, den Moment des Außersichseins auf dem Dancefloor festzuhalten, und arbeitete sich darin am Problem ab, Textformen der Gegenwartsmitschrift zu entwickeln. Ein Love-Parade-Held wie DJ Westbam erschien bei Goetz in provokativer Weise als Künstler ersten Ranges.
    Pop, Mode, Lifestyle stiegen zu Kulturthemen auf. Neue, schnelle Medien wie die »Berliner Seiten« der FAZ oder das »Jetzt«-Magazin der »Süddeutschen« bildeten diese Aufweichung der alten Gräben zwischen E und U, zwischen Hoch- und Subkultur nicht nur beispielhaft ab, sondern waren selbst Vorreiter dieser Bewegung. Daraus ging eine neue Generation von Journalisten hervor, die sich weder von der Literatur noch vom Pop durch eine Schranke getrennt fühlten: Pop hielt Einzug in die Feuilletons. Die Grenzüberschreitungen des »New Journalism« wurden in Deutschland nachgeholt und befeuerten als Konkurrenz auch die Literatur. Zugleich wurde der musikalische Deutschpop theoretisch und intellektuell – und zwar anders als bei Oberlehrern wie Heinz Rudolf Kunze. Bands wie Tocotronic oder Blumfeld gaben jetzt die Stichworte zur geistigen Situation der Zeit: »Wir kommen um uns zu beschweren« (1996).
    Auch die Literaturwissenschaft öffnete sich der Gegenwart: Statt dass wie früher Schriftsteller germanistische Theorien in Texte gossen, wurden nun in Seminaren Neuerscheinungen gelesen, es war auf einmal möglich, »Gegenwartsliteratur« zu studieren, die nicht zur Gruppe 47 zählte. Plötzlich hielten Germanistikstudenten Referate über Schriftsteller, die sie am Abend zuvor in einer Bar hatten lesen hören. Noch in den frühen Neunzigern wäre das komplett unwahrscheinlich gewesen. Als 1997 der Germanistentag in Bonn stattfand, sein Generalthema lautete »Autorität«, gab es abends eine Fete mit den » DJ s« Thomas Meinecke und Jochen Distelmeyer, der zwischen seinen Lieblingsplatten Texte von Novalis und Nietzsche las.
    Überhaupt konnte man schon an Lesungsorten erkennen, dass sich Literatur in der öffentlichen Wahrnehmung veränderte: Statt in Buchhandlungen und Literaturhäusern lasen junge Autoren in Clubs und Diskos, füllte das Lesepublikum die Volksbühne in Berlin und die Batschkapp in Frankfurt.
    Mit dem Fokus auf Stil und Mode und dem damit einhergehenden Kult der Distinktion änderte sich auch das Bild des Schriftstellers: Aus dem Nerd wurde der Hipster. Autoren waren plötzlich gutaussehende und gutangezogene Trendsetter, ja sogar, wie etwa im Fall des jungen Bestsellerautors Benjamin von Stuckrad-Barre, Stilikonen. Der Begriff »Fräuleinwunder« bezog sich in ähnlicher Weise auf die schockhafte Einsicht älterer Kritiker, dass da auf einmal sehr attraktive Frauen auf Buchmessenpartys auftauchten. Kurz: Literatur wurde wieder so cool, wie sie zuletzt in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren gewesen war, mit den jungen Grass und

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