Das kurze Glueck der Gegenwart
zählen mit, indem wir uns in sie vertiefen (…) V. Bücher und Dirnen – sie haben jedes ihre Sorte Männer, die von ihnen leben und sie drangsalieren. Bücher die Kritiker.« Und schließlich noch ein schöne Begründung aus berufenstem Munde, warum auch mein Buch keine Anmerkungen enthält: »Bücher und Dirnen – Fußnoten sind bei den einen, was bei den anderen Geldscheine im Strumpf.«
Die Richtung stimmt, aber der Vergleich mit Prostituierten ist vielleicht in unserer freigeistigen Zeit weniger zwingend. Ich würde sagen, Bücher sind wie Affären. Die Lust am Text, am immer neuen Buch, entspricht dem Verlangen nach Sex. Der Reiz liegt in beiden Fällen im Neuen, im Unbekannten.
Gehen wir zu mir oder zu dir? Beim Buch ist das keine Frage. Sogar im eigenen Bett hat der Leser immer ein Auswärtsspiel und bewegt sich auf unbekanntem Terrain. Man muss für diese Parallele nicht Freud bemühen und jede Kulturleistung – also das Lesen wie das Schreiben – als Sublimierung deuten, also als eine Art Ersatz für die Triebbefriedigung, für das »Eigentliche«, auf höherer Ebene. Es geht auch viel einfacher: In der Literatur wie in einer Affäre macht man buchstäblich über Nacht die intime Bekanntschaft mit einem anderen Leben.
Auch wenn Frauen das immer peinlich ist, weil sie es bei sich daheim grundsätzlich unordentlich und unaufgeräumt finden – ein Teil des Reizes bei einer flüchtigen Bekanntschaft liegt doch gerade darin, unvorbereitet und spontan einen Einblick in ein fremdes Leben gewährt zu bekommen, eine fremde Wohnung mit allen Spuren, die darin zu finden sind. One-Night-Stands sind wie eine ethnologische Forschungsreise, aus einer Wohnung erfährt man ungleich mehr über jemanden als aus einem noch so langen und persönlichen Gespräch in einer notgedrungen neutralen Bar, die ja immer auch die Kulisse eines Schauspiels ist. Diese Bedeutung kommt der Wohnung nur deshalb zu, weil jenseits des Amourösen ein unvorbereiteter, spontaner Besuch oder eine Einladung nach Hause wieder so selten geworden ist. Denn »einfach so« laden sich eigentlich nur Pärchen nach Hause ein.
Daher ist es kein Zufall, wenn eine Urszene der jüngeren deutschen Literatur sich mit der Einrichtung deutscher Schlafzimmer beschäftigt. Benjamin von Stuckrad-Barre braucht in seinem »Soloalbum« (1998) der Partybekanntschaft nicht einmal nach Hause zu folgen. Sein ethnologischer Blick weiß auch so, wie es dort aussieht: »Ich schätze mal, über ihrem Bett hängt in DIN A 0 der sterbende Soldat, auf dem Boden steht eine Lavalampe.«
Wenn man sich auch Jahre nach der Lektüre in diesem Roman an wenig Details erinnert. Neben den Oasis-Songs, mit denen jedes Kapitel überschrieben ist, hat vor allem die Lavalampe einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Vor der Lektüre kannte ich sogar, ehrlich gesagt, das Wort gar nicht, obwohl ich das Ding schon hundertmal gesehen hatte. Und immer wenn ich jetzt eine sehe, dann muss ich ans »Soloalbum« denken und an eine Zeile von Tocotronic: »Über Sex kann man nur auf Englisch singen.« Auf Deutsch kann man sich wohl eher darüber lustig machen.
Ist es ein Naturgesetz oder ein unbewusstes Stuckrad-Barre-Zitat, dass man zu Besuch in einer fremden Wohnung immer zuerst die Bücherregale inspizieren muss? Oder eben die CD -Regale. Wenn da eine Oasis-Platte steht, dann würde das sogar die Lavalampe aufwiegen. Das Setting ist die Domäne der Literatur, die der Rostocker Germanist Moritz Baßler die »Archivfunktion« der Popliteratur genannt hat. Wie sieht es aber mit der Handlung aus? Wenn Bücher Affären sind, ist dann der Sex nicht die Hauptsache? Bei Stuckrad-Barre sieht es diesbezüglich eher duster aus. »Soloalbum« ist der Roman eines posttraumatischen Trennungssyndroms. Sex und Affären sind hier Vergangenheit. Wenn nicht ohnehin nur von »Knutschen« die Rede ist, dann muss es ausreichen, von Frauen zu sagen, dass sie »sexy« sind, was wohl eher »gut im Bett« meint. Das Sexuelle aber muss durch das Raster fallen, denn Sex erlaubt keine ironische Distanz. Der beobachtende Blick des Ethnologen kann sich auf Äußerlichkeiten richten, auf Kleidung, Habitus, Musikgeschmack. Auch bei Rainald Goetz, dem großen Chronisten der Techno-Jahre, wird Intimität ausgespart. Es ist viel von »Mäusen« die Rede, selbst Mäuschen spielen darf der Leser aber eher nicht.
Ist Sex denn gar nicht literaturfähig? Oder nicht mehr? Ist der Gegenwart der Sex abhandengekommen, weil er zur puren
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