Das kurze Glueck der Gegenwart
editorischer Zufall. Der Autor der »Stahlgewitter« und der »Strahlungen«, der Naturereignisse gern als Zeichen las, hätte darin aber vielleicht selbst eine List der Vorsehung erkannt. Denn in diesem Jahr hielt unerwarteterweise der Krieg auch Einzug in die aktuelle Literaturproduktion – so als habe man einen alten Veteranen der Schlachtbeschreibung wie Jünger als Verstärkung gebraucht, um ausreichend Deckung zu haben.
Ingo Niermann und Alexander Wallasch erzählen in »Deutscher Sohn« vom Schicksal eines Kriegsversehrten des Afghanistankrieges. Harald »Toni« Heinemann, achtundzwanzig, sitzt neun Monate nach seiner schweren Verwundung durch einen Selbstmordattentäter in einem speziellen Reha-Pflege- und Wellness-Sessel zuhause, hält sich mit stärksten Schmerzmitteln, Discounter-Bier und Internet-Pornos über Wasser. Seine nur langsam verheilende Wunde am Oberschenkel macht Toni zu einer exemplarischen Leidensfigur, einem typischen deutschen Mann, der seinem Großvater, der im Zweiten Weltkrieg kämpfte, immer ähnlicher wird. Toni ist ein recht einfach gestrickter Typ, der sich von seinem physischen Makel in immer krassere Sexphantasien hinwegträumt und zugleich in der Psychotraumatologie des Bundeswehrkrankenhauses den erlebten Schrecken bearbeitet.
So weit, so realistisch und auch interessant. Leider stellt sich nach etwa einem Drittel des Romans heraus, dass die beiden Autoren gar nicht wirklich an einem Roman über den Krieg und dessen Folgen interessiert sind, nicht einmal als Psychogramm eines Soldaten. Vielmehr haben sich Niermann und Wallasch eine schöne These ausgedacht, zu deren Demonstration sie den Roman gnadenlos auf die Spur von Kolportage und Trash setzen.
Tonis Wunde nämlich verstehen sie als männliches Pendant zu den »Feuchtgebieten« Charlotte Roches, die in ihrem Bestseller aus dem Jahr zuvor in allen Details die Vorgänge rund um die Operation einer Analfissur in neofeministischer Absicht beschrieb. Als ein unhygienisch-ekelproduzierender Angriff auf die sterilen, faltenfreien und komplett rasierten Oberflächen der Modemagazine.
Helen, die Hauptfigur der »Feuchtgebiete«, taucht höchstpersönlich samt ihrem äthiopischen Pflegerfreund in Wallasch/Niermanns Roman auf, wird umstandslos Tonis Geliebte und befreit ihn von allen Komplexen. Als »deutsche Tochter« steht sie vom flotten Dreier bis zum Analverkehr (natürlich auch mit Avocadokernen, die der Leser schon aus den »Feuchtgebieten« kennt) für alle Wünsche des Erzählers Gewehr bei Fuß. Aus dem Kriegsroman wird ein metaliterarisches Spiel. Schließlich kippt der Roman dann noch in eine kolportagehafte Provinzposse, wo es um einen lokalen Giftmüllskandal, eine Freiluft-Inszenierung von Wagners »Parsifal« und um eine verrückte neuheidnische Sekte geht, die sich vom Kriegshelden die Erlösung Deutschlands verspricht. So jonglieren die Autoren mit unheiligen deutschen Opfermythen und allerlei Trash-Elementen, bis vom Afghanistankrieg gar nichts mehr übrigbleibt. Hat man den Roman ausgelesen, erinnert man sich vielleicht noch an Tonis skurrilen Auftritt vor dem Kreisverband der Linken: »Wir danken unserem Freund Toni Heinemann für seine emotionalen Ausführungen und seine detaillierten Beschreibungen der Lage vor Ort.« Im Roman gibt es davon eben auch viel zu wenig, so dass er am Ende genau so unpolitisch ist wie seine hauptsächlich an weiblichen Körperöffnungen interessierte Hauptfigur. Ein großes Missverständnis.
Ganz anders, mit nahezu quälendem Ernst, geht Michael Kleeberg einen im Kern ganz ähnlichen Stoff an: Sein Roman »Das amerikanische Hospital« erzählt von der Begegnung des amerikanischen Offiziers David mit der Französin Hélène im Paris der frühen neunziger Jahre. David leidet, äußerlich unversehrt, an einem schweren seelischen Kriegstrauma aus dem Ersten Golfkrieg. Er wird im Amerikanischen Hospital in Paris behandelt, in dem sich Hélène zur gleichen Zeit mehrfach der komplizierten Prozedur einer künstlichen Befruchtung unterzieht. In ihren immer wieder durch lange Pausen unterbrochenen Begegnungen führen sie einen Dialog über Sinn und Unsinn des Krieges, gleichzeitig nähert sich David in seinen Erinnerungen an den eigenen Einsatz schrittweise jenen schrecklichen Ereignissen, die den robusten Mann zu einem psychischen Wrack gemacht haben.
Interessant ist, wie auch Kleeberg wieder bei der Urkatastrophe des Jahrhunderts landet: »Nasebohrende Kinder auf Besuch betrachteten die
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