Das kurze Glueck der Gegenwart
Selbstverständlichkeit geworden ist? Ist die Literatur, die einst einer der großen Tabubrecher war, prüder als die sie umgebende Gesellschaft geworden?
In den neunziger Jahren erfolgte der Durchbruch der Pornographie von einem Randbereich der Gesellschaft und Kultur in ihre Mitte. Sie war auch zuvor mächtig und kommerziell bedeutend, aber noch nicht selbstverständlich und für alle und jeden zugänglich. Schon mit dem Videorekorder war der Massenkonsum von Pornofilmen heimisch geworden – im wörtlichen Sinne. Die Pornographie kam ins Haus. Doch sowohl der Besuch von Pornokinos als auch das Ausleihen von Filmen in Videotheken hatten etwas Anrüchiges behalten. Scham oder Ekel oder gar beides. So ist das Ertapptwerden vor entsprechenden Filmregalen, die Peinlichkeit, die lächerlichen Ausreden selbst ein Topos der Filmkomödie geworden.
Das Internet ändert hier alles, und zwar nicht nur wie im Zeitungswesen, im Musikbusiness oder bei der Jobsuche die Geschwindigkeit die Vertriebsstrukturen, sondern den Ort, den diese Bilder in unserem Bewusstsein einnehmen. Popfan oder Zeitungsjunkie konnte man auch in den Achtzigern sein: Man musste nicht Musik überall herunterladen können, um seinen Alltag mit ihr zu untermalen. Und man konnte auch alle Samstagsfeuilletons checken, als sie noch nicht per Perlentaucher.de auf dem Silbertablett serviert wurden. Vielleicht war das früher sogar besser möglich, denn vor allem Musikgeschmack hatte etwas von Kennerschaft, von Insidertum, und mit einer riesigen Sammlung obskurer Vinylplatten oder CD s war das leichter als in Zeiten von iTunes und Pandora.com, wo jeder mit ein paar Klicks einen noch so ausgefallenen Musikgeschmack befriedigen kann.
Beim Porno ist das anders. Das Internet ermöglicht eine Rundumversorgung mit pornographischen Bildern und Filmen, von der früher nur Videotheksbesitzer träumen konnten. Plötzlich ist es ein Leichtes, sich daheim ganze Sammlungen anzulegen – auf dem Personal Computer, der auch deshalb so heißt, weil seine Speicherinhalte niemanden etwas angehen. Eventuell nicht einmal den eigenen Lebensgefährten oder Mitbewohner. Das Pornokino ist wie ein Backofen: Nicht jeder nutzt ihn, aber er steht in jedem Haushalt.
Auf diese Allgegenwart und Allmacht der pornographischen Bilder muss natürlich auch eine Literatur der Gegenwart reagieren. Allein schon deswegen, weil sie früher selbst ein wichtiges Medium der sexuellen Bewusstseinsbildung und der Normalisierung von Praktiken und Lebensformen gewesen ist, die früheren Epochen als Perversionen galten. In der ersten Staffel der amerikanischen Fernsehserie »Mad Men« über die frühen sechziger Jahre in New York sieht man, wie sich die Sekretärinnen auf der Damentoilette eine Kopie von Henry Millers »Wendekreis des Krebses« zustecken, das Skandalwerk der vierziger Jahre, das damals gerade erst vom Bann des Verbots befreit worden war. Dort las man nach, was alles möglich und, wenn schon nicht erlaubt, so doch denkbar war. Seit den neunziger Jahren geht man ins Netz und kann jede Art von Verkehr für legitim halten. Sexualmoral ist zur reinen Geschmackssache geworden.
Die Literatur bekommt dadurch eine neue Rolle. Sie muss nicht mehr selbst Avantgarde sein, schockieren, das Bewusstsein oder die Grenzen des guten Geschmacks erweitern helfen. Sie kann es auch gar nicht mehr, denn an die Suggestivkraft der Bilder kommt sie sowieso nicht heran. Das Erregungspotential des Films ist im doppelten Sinne größer.
Dass man sich alles besorgen kann, um es sich zu besorgen, ist die eine Seite der Geschichte. Zugleich kann man sich im Netz komplett, weltweit und rund um die Uhr entblößen. Man muss dafür nicht mehr den Umweg über die Schrift, über das journal intime gehen, das noch bis weit ins zwanzigste Jahrhundert ein Medium der Enthüllung und der Sensation war. Peter Rühmkorfs explizite Tagebücher waren in Deutschland ein später Höhepunkt des Genres. »Tabu« (1995, 2004) hat er sie genannt und darin tatsächlich einige sehr heftige Geschichten erzählt.
Steht der »erotische Roman«, wie der pornographische Roman heißt, wenn er (noch) nicht zum Skandal geworden ist, da nicht auf verlorenem Posten? Ist er nicht ein Anachronismus? Einer der schönsten und klügsten Romane der Gegenwart, Thomas Lehrs »Nabokovs Katze« (1999), beweist das Gegenteil. Und zwar, indem er die Übermacht der Bilder zu seinem Stoff macht.
Der Erzähler Georg ist ein unabhängiger Filmemacher, der versucht,
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