Das kurze Glueck der Gegenwart
seiner lebenslangen Besessenheit von seiner Jugendliebe Camille auf die Spur zu kommen. Er hat nie mit ihr geschlafen (mit sehr vielen anderen Frauen schon) und doch oder gerade deswegen steigert er sich in seine Phantasien hinein, bis sogar seine Ehe daran zerbricht. Dem Genre nach ist »Nabokovs Katze« ein fast klassischer Bildungs- und Künstlerroman wie »Der grüne Heinrich« von Gottfried Keller oder Goethes »Wilhelm Meister«.
Bildung ist hier wie dort klassisch breit angelegt, sie umfasst die Ausbildung aller Kräfte, vom Intellektuellen und Geistigen bis zum Sinnlich-Körperlichen und auch zum Emotionalen. Sex und Erotik sind hier neben den Büchern und Filmen das entscheidende Bildungsmittel, ja Kunst ist eigentlich nur etwas wert, wenn sie uns über die Liebe etwas lehrt. Das fängt im Jugendalter an; sehr komisch wird hier beschrieben, wie Bücher auch als Wichsvorlage noch Bildungserlebnisse zu bieten haben: »Georg las Henry Miller, die Erinnerungen der Josefine Mutzenbacher und Alberto Moravia, bei dem ein Metzgerlehrling sich an einem Stück Fleisch verging. Bald wunderte er sich über gar nichts mehr, es sei denn, ein Wort war ihm unverständlich. Fellatio, Cunnilingus, Phänomenologie. Vom Taschengeld eines Monats hatte er sich ein Fremdwörterlexikon gekauft: als Bibel, als Waffe.«
Erregung und Bildung sind nicht zu trennen. Ein Kapitel seines im gleichen Jahr wie Lehrs Roman erschienenen Buchs »Animationen« mit dem Titel »Das Sperma der frühen Jahre« beginnt Thomas Hettche mit der Erinnerung daran, wie er einmal als Gymnasiast im Schulbus onanierte. Die »Animationen«, ein literarisch-essayistisch-wissenschaftliches Zwitterwerk, sind wohl die einzige literaturgeschichtliche Dissertation, in der der Doktorand davon erzählt, wie er sich über einem Roman aus dem achtzehnten Jahrhundert einen runterholt.
Lehr, der Jahrgang 1957 ist, wurde, für seine Generation sehr typisch, mit dem Autorenfilm der siebziger Jahre sozialisiert. Godard, Truffaut, Fellini. Auch der Film ist natürlich ein Medium der erotischen Sekundärbildung. Bernardo Bertoluccis »Der letzte Tango in Paris« stachelt die Phantasie des angehenden Filmers ebenso an wie John Updikes freizügige Rabbit-Romane. Dabei versucht er selbst die Kunst in den Dienst einer Selbsttherapie zu stellen, um von seinem Dämon Camille endlich loszukommen. Er schreibt ein Drehbuch über eine keusche Nacht, die er bereits zu Studienzeiten mit Camille verbrachte. Sie ist eine Traumfrau im doppelten Sinn, eine Projektionsfläche, eigentlich von Anfang an eine Kunstfigur.
Und genau deswegen verzweifelt Georg über der künstlerischen Bewältigung seines Lebensstoffes: »Ihm fehlte die Kraft, den Stoff zu verfremden. Eine unbegreifliche Kraft zwang jeden Gedanken, der ins freie Erfinden zielte, nieder und verwandelte ihn in einen einfallslosen, dokumentarischen Satz … Sollte er vielleicht chronologisch vorgehen, um anhand vergleichender Messungen das Maximum der Camillearität in seinem Leben bestimmen zu können? Im Urschlamm der Frühe: Georg und Camille lernten sich während der Schulzeit kennen, zu Beginn der siebziger Jahre … das wäre kein Drehbuch, sondern ein deprimierender Roman.« Dabei liegt das Problem tatsächlich am Medium. Was als Film misslingt, funktioniert schließlich in der Literatur: Der vorliegende Roman »Nabokovs Katze« trägt den Arbeitstitel des gescheiterten Filmprojekts.
Schon in der Zeit der ersten, tastenden Versuche als Hobby-Autorenfilmer stellt Georg Betrachtungen über das Pornographische im Film an, sie haben gerade »das spirituelle Meisterwerk ›Schülerinnenreport‹« im Kino angesehen. »Der Gedanke des Objektivs, das sah, ohne zu fühlen, das das Besondere einfing, um es dann gerade durch das präzise Bild der eigenen Oberfläche zu zerstören, beschäftigte Georg noch einige Tage lang.«
Als er dann endlich ausreichende und ausgiebige sexuelle Erfahrungen mit wechselnden Partnern macht, stößt das von ihm als Ausdrucksform privilegierte Medium, der Film, an eine Grenze: »Und interessant: dass von all diesen Dingen kaum etwas in Filmen vorzukommen pflegte, auch wenn man die Arbeiten der Meister betrachtete. Daraus konnte man schließen, dass sich der Film, gemessen an der Jahrtausendarbeit der Literatur, noch immer im naiven Stadium befand, im Feudalismus, wie Godard festzustellen beliebte.«
Also gerade dem Film fehlen die Lebensnähe, die Einzelheiten und sensuellen Details, die die sexuelle
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