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Das kurze Glueck der Gegenwart

Das kurze Glueck der Gegenwart

Titel: Das kurze Glueck der Gegenwart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Kaemmerlings
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Erfahrung ausmachen. Dabei ist ja gerade Pornographie das Filmgenre, in dem der Unterschied zwischen Darsteller und Dargestelltem wegfällt. Der Pornostar (jedenfalls der männliche) ist kein Schauspieler, oder genauer: Das, was er vielleicht nebenbei auch noch spielt, ist nur die Nebensache. Georg fällt natürlich sofort auf, wie die männlichen Darsteller vor der Ejakulation ihr Glied herausziehen müssen, damit man ihren Höhepunkt auch dokumentieren kann.
    Hier liegt das Paradox der Pornographie: Das scheinbar natürliche Medium, der Film, der allein in der Lage ist, durch Bilder die »Wirklichkeit« des Geschlechtsverkehrs zu zeigen, also zu beweisen, muss als Kunstform immer mangelhaft bleiben. Nachdem Georg in Mexiko an der Seite seiner Reisebekanntschaft, der nicht nur intellektuell reiferen und erfahreneren Ethnologin Mary, in einer exzessiven Drogen- und Sexorgie verborgene Seiten seiner Seele kennengelernt und eine Katharsis erlebt hat, klärt diese ihn über das Wesen des Sexuellen auf: »Sex ist nie oberflächlich«, sagte Mary, »Sex ist immer Mythos. Wie der Tod, wie die Krankheit, wie die Verletzung, wie der Austausch der Güter. Es gibt keine Flachheit, man kann nur so tun. Hinter der Pornographie steckt die Gewalt und die Lüge. Hinter dem bloßen Vergnügen, unter der Parfumschicht, liegt der ernste Geruch der Körper. Sex hat immer eine Tiefe, immer einen Kontext.«
    So ist Thomas Lehr ein erotischer Roman gelungen, der zugleich ein Roman über Erotik in Literatur und Film ist. Literatur ist nie das Eigentliche, weil sie Sprache ist und nichts zeigt, sondern nur behauptet. Insofern ist das Pornographische an ihr, gerade wenn es gelingt, stets Erotik. Über die Sprache wirft sie den Projektor unseres Kopfkinos an und ist damit als Form ein Widerspruch zu der uns umgebenden sofortigen Bedürfnisbefriedigung per Bildpräsenz. Also ist die anfängliche gewagte Metapher von den Büchern als Affären doch ziemlich schief. Bücher sind Sex? Nee. Also dann eine »Herzenssache«? Auch nicht, du lieber Gott. Bücher sind Flirts? Okay. Ein Buch ist ein Schwarm, hm. Vielleicht so: Bücher sind ein guter Striptease, bei dem das Letzte, das Entscheidende doch immer bedeckt und so Raum für die Phantasie bleibt.
    Einer der untrennbaren Kontexte von Sex ist, nicht erst seit Aids, der Tod. In den Mythen und der Psychoanalyse wird ein enger Zusammenhang zwischen Sex und Tod hergestellt. Auch in Thomas Lehrs Roman geht der lebenslangen sexuellen Prägung auf die eine, unerreichbare Frau eine Art Nahtoderlebnis voraus, ein LSD -Horrortrip, der Georg ins Krankenhaus bringt. Auch einer der besten pornographischen Romane der letzten Jahre kreist in Wahrheit um Vergänglichkeit, Altern und Tod: Ralf Rothmanns »Feuer brennt nicht« (2009).
    In Rothmanns Roman lebt Wolf, ein Schriftsteller auf der Schwelle zur fünfzig, seit gut zwanzig Jahren mit der deutlich jüngeren Alina zusammen. Der drohenden Gefahr der Verspießerung und Verödung ihrer Beziehung, sie sind gerade aus Kreuzberg an den östlichen Stadtrand Berlins, an den Müggelsee, gezogen, begegnet Wolf, indem er eine heftige, auf das Körperliche beschränkte Affäre mit der älteren Kulturwissenschaftlerin Charlotte (wieder)beginnt.
    Obwohl auch der Sex mit Alina keineswegs langweilig ist, befriedigen erst die heimlichen Treffen mit Charlotte Wolfs sexuelle Phantasien. Was die beiden dann an oralen und analen Dingen so treiben, mit Sadomaso etc., beschreibt Rothmann mit großer Selbstverständlichkeit und ohne jenen prahlerischen Unterton, der Autoren so oft unterläuft, wenn sie in sexuellen Dingen den Verdacht von Verklemmtheit mit Sicherheit ausschließen wollen. Das Buch wurde als täglicher Vorabdruck in der FAZ veröffentlicht, wobei zu vermuten ist, dass dabei so manchem morgens die Lesebrille in den Kaffee gefallen ist angesichts des nicht gerade zimperlichen Umgangs mit den menschlichen Körperöffnungen.
    Ralf Rothmann, geboren 1953 und aufgewachsen im Ruhrgebiet, ist der romantische Realist unter den Autoren seiner Generation. Ein Arbeiterkind und Autodidakt, hat er seine proletarische Herkunft für eine Sinnlichkeit und Direktheit der Sprache ausgebeutet. Romane wie »Stier« oder »Wäldernacht« waren in den Neunzigern für mich wichtige Lesererlebnisse, weil hier jemand zeigte, wie man einer tristen Wirklichkeit die Fäden von Sehnsucht und Utopie einweben, der Gegenwart eine historische Tiefendimension unterlegen konnte. Was Rothmann in seinen

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