Das kurze Glueck der Gegenwart
Krieges. Dann liest sich plötzlich auch Kleeberg wie eine Antwort auf Charlotte Roche: »In der Nacht zwei Wochen nach dem Transfer wachte Hélène dann mit stechenden Unterleibsschmerzen auf und wusste sofort, woran sie war. (…) Sie spürte den Druck, es war wie eine Kolik, wie Durchfall, sie hatte eben noch Zeit, sich das Nachthemd bis unter die Brüste hochzuziehen und sich auf die Klobrille zu setzen, dann kam es in einem platschenden, klatschenden, warmen und heftig riechenden Schwall. Sie schaltete das Licht an und wagte, einen Blick auf das blutbespritzte und verschmierte Toilettenbecken zu werfen. Das Wasser im Abfluss war hellrot, es gab dunkelrote schlierige Klümpchen.« Ist das nun Kleebergs Hélène oder doch die Helen aus Roche/Wallasch/Niermann?
Auch von diesen Details, diesen »Fetzen« wird erstaunlich kohärent erzählt. Es bleibt die Feststellung, dass die deutsche Literatur dem Krieg doch nicht gewachsen ist – noch nicht. Positiv ist festzuhalten, dass sie das Problem erkannt hat und sich bemüht, ein Trauma zu bearbeiten. Solange sie es aber nicht hinkriegt, die absurden Ungleichzeitigkeiten des Krieges in eine Erzählung zu packen, ohne das Thema zu verfehlen, müssen wir uns eben doch an Ernst Jünger halten. Ich habe eben den Zeitungsbericht über den lachenden Panzerfahrer zitiert. Bei Jünger klingt das so:
»Dann lag ein Pferd auf der Straße, aufgeschlitzt, die Därme lagen umher und dampften noch. Nun kamen wir an eine große, unheimlich anmutende Lichtung, die dadurch entstanden war, daß der Wald vollkommen durch Granaten abgeholzt war, höchstens standen noch die kahlen Zweige mit Hauptästen. Hier war Grade auffahrende Artillerie, ich hörte den Offizier kommandieren: Visier 2500 Shrapnell, Brandzünder. Von hinter flogen andauernd Shrapnells, und Granaten im elegantem Bogen über uns und platzten, da auch die Feinde leichte Feldartillerie zu verwenden schienen mit diskretem Knall vor uns, hinter uns, neben uns und hinter uns. Ich hielt die Zeit gekommen, mein zweites Pfeiflein anzustecken, hatte den Humor aber auch wohl ohne das behalten.«
Immerhin hat der Bücherherbst 2010 einen Roman hervorgebracht, der die Ära des Terrors, die Vor- und Nachgeschichte des 11. September in eine welt- und weltenumspannende Geschichte gebannt hat. Thomas Lehrs jüngster Roman »September. Fata Morgana« erzählt von zwei Familien, in New York und Bagdad, die jeweils zufällige Opfer dieser irrsinnigen Konfrontation zwischen dem Westen und der islamischen Welt werden. Der Germanist Martin verliert seine Tochter Sabrina bei den Anschlägen auf das World Trade Center in New York, der irakische Arzt Tarik seine Tochter Muna bei einem Bombenattentat in Bagdad drei Jahre später. Mit dieser rhythmischen Prosa, die ohne Punkt und Komma verfasst ist, bricht Lehr den globalen Terror und den asymmetrischen Krieg nicht nur auf zwei private Lebensgeschichten herunter. Lehr gelingt außerdem, was – leider – nur die Literatur kann: diese beiden Biographien, die sich real gar nicht begegnen, allein durch die Komposition und die Motive zu verschränken und so die politischen und kulturellen Gegensätze in der Poesie aufzuheben.
Ein romantisches Konzept: Der Literaturwissenschaftler Martin beschäftigt sich mit dem persischen Dichter Hafis, der Goethe zu seinem »West-östlichen Diwan« inspirierte, und dem Romantiker Friedrich Rückert, dem polyglotten Begründer der deutschen Orientalistik, der unter anderem den Koran übersetzte. Tarik wiederum studierte in Paris.
Vereint in der Trauer um den sinnlosen Verlust der eigenen Kinder, wird ihre Geschichte zum Fanal der Humanität. Der Roman als Utopie, als Geschichte des Kennenlernens einer anderen Kultur, die auch dem Leser die Augen öffnet. Er sieht danach verändert auf die politische Landkarte. »September« ist eine Form von Change-Literatur, die das Bewusstsein dem Sein voranschickt. Vielleicht ist Lehr der erste Roman einer neuen Epoche, eines neuen Jahrzehnts geglückt.
3.Über Sex kann man nur auf Englisch singen: Erzählen in der Porno-Ära
Walter Benjamin wusste wie immer, worauf es ankam. In einem berühmten Stück in seiner »Einbahnstraße« vergleicht er Bücher mit Huren, die besten seiner Thesen lauten: » I. Bücher und Dirnen kann man ins Bett nehmen (…) III . Büchern und Dirnen sieht es keiner an, dass die Minuten ihnen kostbar sind. Lässt man sich aber näher mit ihnen ein, so merkt man erst, wie eilig sie es haben. Sie
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