Das kurze Glueck der Gegenwart
Ausbildungszeit in der NVA hat er in einem Kapitel seines Romans »Der Turm« (2008) eindringlich geschildert.
Und diese Erfahrungsdifferenz wiederholte sich in den neunziger Jahren: Denn die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbrüche in Ostdeutschland, die Umwertung aller Werte, der Umbau des sozialen Gefüges, auch die architektonische Veränderung der Städte, der Dörfer und der Landschaften (meist, aber nicht nur zum Positiven) hatten eine Dimension, die mit »normalen« Modernisierungsprozessen im Westen nicht mehr zu vergleichen war. So kam es dann zu einer erneuten Ungleichzeitigkeit. Während die Westdeutschen, manche jedenfalls, irgendwie fasziniert diesen unbekannten Osten entdeckten (und zugleich aber ihre vertraute Bundesrepublik behielten), ging den Ostdeutschen dieser Osten gerade verloren.
Ein Buch wie »Generation Golf« ist dabei ohne den Epochenbruch von 1989 gar nicht denkbar. 1989 war für die Westdeutschen wie ein Prisma, das es ermöglichte, die eigene Vergangenheit, die eigene Herkunft wie etwas Fernes und Fremdes zu betrachten, auf das man sich gleichwohl ungebrochen und in einem positiven Sinne beziehen konnte.
»In weiter Ferne so nah«, hieß ein Filmtitel von Wim Wenders, der zum geflügelten Wort in den Neunzigern wurde. Nicht der reale zeitliche Abstand war entscheidend, sondern die mentale Distanz, die sich plötzlich zur Welt der eigenen Jugend auftat. Daher der Erfolg von »Generation Golf«, das diese so nahe und zugleich so weit entfernte Welt wieder lebendig werden ließ wie ein Song von den Smiths oder den Dire Straits. Es ist nicht unbedingt eine Flucht vor der Gegenwart, wenn die achtziger Jahre Thema werden. Der Rückblick auf die Jahre unmittelbar vor 1989 kann eine Arbeit am Scharnier des Zeitbewusstseins sein, jedenfalls dann, wenn sich der Abstand in der erzählerischen Form wiederfindet. Der Blick auf die Achtziger ist gerade eine notwendige Selbstvergewisserung. Erst in den Neunzigern wurde der Generation Golf bewusst, dass ihre Sicht der Welt keine definitive, alleingültige ist, sondern der sehr spezielle Blick einer von materieller Sorglosigkeit verwöhnten Alterskohorte.
Die besondere Konstellation jener Jahre war, dass die überfällige Weltzuwendung der westdeutschen Literatur zusammentraf mit dem Nachwendeaufbruch der ostdeutschen Erzähler: Während im sogenannten deutschen Literaturstreit mit der vermeintlich staatsnahen DDR -Literatur einer Christa Wolf öffentlich ins Gericht gegangen oder die Stasi-Vergangenheit eines prominenten Dichters wie Sascha Anderson aufgedeckt wurde, bestimmten in den frühen Neunzigern kritische Autoren aus der DDR die gesamtdeutsche Literaturszene, Autoren wie Monika Maron, Wolfgang Hilbig, Volker Braun oder Christoph Hein, auch wurde erst jetzt Reinhard Jirgl als eine große Stimme seiner Generation entdeckt. Mit der Verarbeitung der unmittelbaren Erfahrung der späten DDR , der Wende- und Nachwendezeit erhielt die ohnehin gen Westen, Richtung Amerika und neues Erzählen aufbrechende deutsche Literatur ein starkes Zusatztriebwerk. Zwar reichte das Formenspektrum vom postmodernen Erzählen Hilbigs bis zum Neoexpressionismus Jirgls, aber keine Frage, dass sich hier die Epochenschwelle im Erzählen unmittelbar niederschlug. Das Bild der Ostdeutschen Postwendeliteratur bestimmten vor allem solche Apokalyptiker, dazu passten die Stagnationslyrik Durs Grünbeins aus der Spätphase der DDR – sein epochaler Debütband »Grauzone morgens« (1988) wurde erst jetzt richtig wahrgenommen – so wie die fast schon inflationären Interviewäußerungen Heiner Müllers, der so etwas wie der rückwärtsgewandte Prophet des Kalten Krieges wurde.
Das erste Meisterwerk, das die jüngere ostdeutsche Literatur der Neunziger hervorgebracht hat, war dennoch erst Ingo Schulzes Buch »Simple Storys« (mit absichtlich falschem neudeutsch-englischem Plural), einem, so der Untertitel »Roman aus der ostdeutschen Provinz« (1998). Hier trafen sich angloamerikanische Form und deutscher Stoff: ein Zyklus von neunundzwanzig Kurzgeschichten, die jeweils in sich abgeschlossen sind und doch erst im Zusammenhang all ihre Dimensionen entfalten. Wenige Familien aus einer ostdeutschen Kleinstadt in den ersten Nachwendejahren bilden das überschaubare Personal für ein unüberschaubar komplexes Geschehen rund um Wendehälse und -verlierer, um Glücksritter des Wiedervereinigungs-Eldorados, um Aufbrüche und Abbrüche. Wie sich beim Schachspiel mit jedem Zug
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