Das kurze Glueck der Gegenwart
die Möglichkeiten vervielfachen, so ist den vielfältigen, in die DDR -Zeit zurückreichenden Beziehungen unter den Figuren allenfalls noch durch ein kompliziertes Schaubild beizukommen: Neunundzwanzig einfache Geschichten ergeben einen komplizierten Roman. So brilliert Schulze einerseits in einem Genre, das Amerikaner wie Cheever, Carver oder Hemingway zur Meisterschaft gebracht haben, und verwebt die Erzählfäden zugleich zu einem komplexen Muster wie in einem der vertrackten Faulkner-Klassiker, etwa »Schall und Wahn«, in dem das Geschehen erst aus den höchst unterschiedlichen Perspektiven der Figuren zusammengesetzt wird. Hätte man nur »Simple Storys«, könnte man glauben, die Wiedervereinigung wäre 1998 in der Literatur genauso reibungslos geglückt wie in der Fußballnationalmannschaft, wo 1996 der Schwabe Jürgen Klinsmann und der Sachse Matthias Sammer gemeinsam Europameister geworden waren – eine simple Erfolgsstory eben. Aber die eigentlichen Differenzen und Schwierigkeiten sollten erst im Lauf der Zeit stärker hervortreten.
Im gleichen Jahr wie »Generation Golf«, im Jahr 2000, erschienen zwei Bücher, die einen sehr eigentümlichen Blick auf die ostdeutsche Vergangenheit richteten: Annett Gröschners Roman »Moskauer Eis« und Jochen Schmidts Erzählungsband »Triumphgemüse«. Den Zusammenhang zwischen ost- und westdeutscher Generationenliteratur bemerkte man freilich nicht sofort. Literarisch wurde hier bereits etwas vorweggenommen, was zwei oder drei Jahre später in der Debatte über Jana Hensels Buch »Zonenkinder« (2002) Thema wurde: die in der Öffentlichkeit tabuisierte Trauer um eine durch die Wende abgeschnittene ostdeutsche Vergangenheit und die Frage nach der Legitimität einer individuellen Erinnerung an die DDR . Die Literatur entwickelte dabei, viel früher als der Diskurs in den Medien, ein Bewusstsein von den Verlusten der Wiedervereinigung, von der eigenartigen Ort- und Identitätslosigkeit der ostdeutschen Gesellschaft, der plötzlich die eigene Geschichte und auch die eigene Sprache verlorengegangen waren.
Annett Gröschner hat für diese abgeschnittene Geschichte in der Rahmenhandlung ihres Romans das groteske Bild des schockgefrorenen Vaters in der Kühltruhe gefunden, den die Erzählerin Annja dort während der Jahreswende 1991/92 aufbewahrt. Dieser Sonderling, den die Mutter schon früh entnervt verlassen hatte, war zu DDR -Zeiten ein wichtiger Kühltechnikspezialist gewesen, Leiter eines Instituts in Magdeburg, das nicht nur diverse Kühlmethoden entwickelte, sondern auch selbst lebensmittelchemische Forschungen durchführte, um in der herrschenden Mangelwirtschaft die Versorgung der Bevölkerung mit Eiskreme (oder diversen Eiskremes täuschend ähnlichen Substanzen) sicherzustellen. Aus der Sicht Annjas als Kind und junge Frau entsteht so ein Panorama der DDR , durch die geniale Großmetapher der Gefriertechnik betrachtet: Der Sozialismus war ein Kühlhaus, in dem die physikalische Formel gilt: »Je kälter, desto weniger Bewegung.« Doch zugleich ist die Konservierung, an der der Vater mit Perfektionismus arbeitet, ein Bild für die Erinnerung und die Literatur: Es ist klar, dass sich die Vergangenheit, ihr Geschmack und ihr Geruch nicht festhalten, nicht aufbewahren lassen. Nur im Roman kann man die vergangene Zeit frisch erhalten. Die Autorschaft der Tochter ist die Fortsetzung des Lebenswerks des Vaters, ein Kampf gegen das Vergehen, das Verderben der Lebensmittel, aber auch das Verschwinden des Geschmacks.
In ihrem »Prolog im eiskalten Arbeitszimmer« formuliert die Erzählerin eine kurze Geschichte der DDR als Geschichte des Wartens, sie endet mit einer radikalen Beschleunigung und einem schlechten Geschäft: »Und aus den Türen der Läden traten die Berater und machten Offerten an die Zögernden: Kommt, werft eure Geschichte ab. Und die, die immer gewartet hatten, konnten jetzt keine Minute länger verweilen. Sie wollten leben, wie sie sich leben immer vorgestellt hatten, und das hieß, das richtige Geld haben, feste Scheine, schwere Münzen, die unsere alten Portemonnaies kaputtmachten. (…) Wir tauschten das Geld gegen unsere Geschichte, mehr hatten wir nicht.«
Der schlechte Deal, der an die Zeit erinnert, als Indianer Land gegen Perlenketten tauschten, wird im Roman durch die Abwicklung des Instituts (trotz positiver Evaluation) und das Verschwinden des nicht mehr konkurrenzfähigen DDR -Eises in der Marktwirtschaft veranschaulicht. Klar, es war
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