Das kurze Glueck der Gegenwart
Debüts, und er hat um das scheinbar beiläufige Gespräch von Mutter und Tochter herum eine ganze Familiengeschichte vom Zweiten Weltkrieg bis in die Nachwendezeit entworfen, eine Geschichte von Verlusten und Brüchen. »Bei Manschow haben jetzt welche nach Gefallenen gebuddelt, wegen der Orden. Und die von der Zeitung wundern sich, dass die gewusst haben, wo sie suchen müssen. Dabei kann man hier überall was finden.« Die ganze Landschaft, das Haus, der Dachboden – alles ist von Geschichte durchdrungen, die sich die Tochter, mit ihrem »Stadtgesicht«, mühsam erobern muss. »›Na, hast du was Spannendes gefunden?‹ – ›Ich hab nur den Honig gesucht, da oben liegen noch alte DDR -Zeitungen, da liest man sich immer fest.‹« Die Geschichte der alten Frau Tatziet ist genau eingepasst in das Gefüge der Nachwendezeit. Jochen Schmidts Band ist ein Kurzgeschichtenzyklus mit einem begrenzten, in mehreren Texten wiederkehrenden Figurenkreis. In einer anderen Geschichte wird der Mann der Alten, ein in seinen Erinnerungen versunkener Schlaganfallpatient, porträtiert: »Herr Tatziet versteht die Welt nicht mehr, und niemand will ihn verstehen.« Bei seiner Milchsuppe sitzt der Alte und kommentiert die Abendnachrichten mit Sätzen wie: »Dahinter stecken natürlich die Geldmenschen« oder »Vergangenheitsbewältigung, was für ein Unsinn«.
Es sind aber eben nicht nur die Alten, die nicht mehr mitkommen und die Welt nicht mehr verstehen. Eine andere, nahezu perfekte Short Story ist »Maik und der Tag X«: »Bis es so weit gekommen war, dass Maik sich ernsthaft fragte, ob er wirklich noch auf die Zeit bauen konnte, die seine Wunden heilen würde, oder ob er schon zu anderen Wundermitteln greifen musste, war viel Zeit vergangen.« Maik ist arbeitslos, zu DDR -Zeiten war er Drucker und Hobbymusiker, jetzt wird er fett, hängt jeden Abend mit dem Bier vor dem Fernseher und kommt morgens nicht hoch. Am liebsten guckt er »einen dieser traurigen Dokumentarfilme über die Ostprovinz« oder alte DEFA -Filme: »Maik hatte in seinem ganzen früheren Leben freiwillig nicht einen DEFA -Film gesehen … Aber seit der Wende, oder vielleicht auch erst etwas später, hatte er sich dafür zu interessieren begonnen. Man konnte sagen, was man wollte, die Menschen, die da zu sehen waren, die hatte es gegeben. Gab es die, die heute zu sehen waren?« Diesem Maik, der sich einst vorgenommen hatte, am Tag X, seinem vierzigsten Geburtstag nämlich, sein altes, kohlegeheiztes Loch von Wohnung zu verlassen, spendiert Schmidt immerhin am Ende einen Aufbruch oder jedenfalls einen Aufbruchsversuch.
Julia Schoch gönnt das ihren Figuren schon nicht mehr. Depression, bis zum Selbstmord verdüsterte Schwärze sind die Grundfarben ihres Erzählens, in dem sich die Stagnation und die klaustrophobische Ausweglosigkeit der späten DDR nahtlos ins wiedervereinigte Deutschland verlängern. Schon die erste Geschichte ihres Debüts, die Titelgeschichte »Der Körper des Salamanders«, ist eine todessehnsüchtige Elegie aus einer Sportkaderschmiede, einem Ruderinternat. Erzählt wird hier schon aus dem Jenseits, die Stimme gehört einer Wasserleiche, »nichts fließt, nichts bewegt sich, jetzt kann ich beginnen:« Und dann folgt eine Vergangenheitsbeschwörung, in der die DDR wie eine versunkene Welt, wie ein Atlantis aussieht: eine winterliche Flusslandschaft, Nebel über dem Wasser und dampfende, schwitzende Körper, am Ufer werden die nahe der Grenze trainierenden Mädchen von Maschinengewehrschützen bewacht. Einen Ausweg gibt es hier nur unter Wasser. Für den NVA -Vater in der Geschichte »Himmelfahrt«, mit seinen Panzermodellen auf dem Schrank und den Manschettenknöpfen mit Maschinenpistolen, ist dagegen das neue Land die Falle: »So sind die Peinlichkeiten dem Vater wenigstens erspart geblieben. Und mir auch. Dass ich hätte mitansehen müssen, wie er schnell wieder mit allem zurechtgekommen wäre. Schwamm da nicht der Vater auf dem Wasser?« Aber der Vater sitzt tot im Sessel, die Tochter findet ihn und durchforscht die Wohnung, stößt auf eine »Photographie aus merkwürdiger Zeit: ich mit einem falschen Haarschnitt auf seinem Arm, er in seiner Montur bei einer Auszeichnungsveranstaltung. Wer von uns beiden belobigt wurde, konnte ich nicht sagen.«
Der Höhepunkt des Bandes ist die Erzählung »Der Exot«, in dem die Erinnerung selbst zum Thema wird. Die Erzählerin reist für einen Zeitungsartikel in die Plattenbausiedlung ihrer Kindheit:
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