Das kurze Glueck der Gegenwart
kein richtiges Eis. Aber es war eben ein Stück der Vergangenheit.
Annja, die noch vor der Wende als Eisverkäuferin am Alexanderplatz jobbte, trifft später ihre Kollegin Karla wieder, die schon unter dem Druck der Konkurrenz klein beigeben will. »›Lass es uns verschenken‹, sagte ich und hielt eine Packung hoch. ›Lassen Sie sich noch einmal vom Geschmack des Moskauer Eises verführen, bevor Ihnen nur noch die Erinnerung bleibt. Kostenlose Eisabgabe.‹ Plötzlich blieben die Leute stehen. Kinder trommelten in Windeseile ihre Kumpels aus der Umgebung zusammen, und nach einer Viertelstunde war alles alle.«
Das Eis als das flüchtigste Material, das nach der Abwicklung der Kühltechnik nicht mehr zu erhalten ist: »Du kannst dir sicher sein«, sagt die Erzählerin zu Karla, »in zwei Jahren werden dir die Leute vorschwärmen, wie gut unser Eis war.«
2002, zwei Jahre nach »Moskauer Eis«, wurde in Jana Hensels Buch »Zonenkinder« ausdrücklich das Recht der Ostdeutschen auf ihre Erinnerung eingefordert – jenseits der politisch-historischen Verdammung der DDR als Unrechtsstaat und Diktatur. Denn zur Abwicklung der (vielleicht) im Einzelfall erhaltenswerten DDR -Institution war inzwischen die Enteignung der Erinnerung getreten.
Eine ganze Reihe von Büchern unternahm seit der Jahrtausendwende den Versuch, diese Vergangenheit wiederzugewinnen und, über den Abgrund des historischen Bruchs hinweg, in der Fiktion zu rekonstruieren. Dieser Unterschied ist wichtig. Es ging den Autoren nicht, schon Annett Gröschner nicht, erst recht nicht den Jüngeren wie Julia Schoch oder Antje Ravic Strubel, um die Bewahrung einer Erinnerung, sondern um die fiktionale Wiedereroberung eines Vakuums, eines leeren Raums. Deswegen ist diese Literatur nicht nostalgisch. Es gibt gar nichts, worauf man sich nostalgisch beziehen, was man verklären könnte. Man kann sich nur ausdenken, wie es wohl in jener mythischen, fernen Zeit vor der Wende gewesen sein mochte.
Der zeitliche und emotionale Abstand zur Wende und den Jahren der Abwicklung war nun groß genug, um die Erinnerung an die DDR nicht in Verklärung und die Wiedervereinigung bei aller Kritik nicht ins pure Ressentiment kippen zu lassen. Vielmehr arbeitet man an gegen die Delegitimierung der individuellen Erinnerung, die Anfang der neunziger Jahre so entwertet worden ist wie das DDR -Geld: Umtauschkurs nicht einmal eins zu zwei. Dass über Ostdeutschland mit Thomas Brussigs satirischem Schelmenroman »Helden wie wir« (1995) – in dem der Held erzählt, wie er die Mauer allein mit seinem Schwanz zum Einsturz gebracht hat – literarisch schon das letzte Wort gesprochen war, konnte nur annehmen, wer auch an die Geschichte von den blühenden Landschaften glaubte und daran, dass die versprochene Vereinheitlichung der Lebensverhältnisse schon eine ausreichende Dosis Seelenbalsam, ein Palliativ sein würde: für den Untergang einer Staats- und Gesellschaftsform, die doch selbst für die, die unter ihr litten, auch Heimat war. Dass mit der D-Mark und massiven finanziellen Transfers (die, wie wir heute wissen, das Wohlstandsgefälle zwischen Ost und West dennoch nicht einebnen konnten) alles gut werde, klingt wie ein letzter Irrglaube des Marxismus. Wenn die Basis stimmt, kommt der Überbau von ganz allein, oder mit Brecht: »Erst kommt das Fressen, dann die Moral.« Dass Erfahrungen, Selbstwertgefühl und Identität keine käuflichen Werte sind, kann man an der jungen ostdeutschen Literatur ziemlich genau seit der Jahrtausendwende ablesen. So erschien ebenfalls im Jahr 2000 Jochen Schmidts Debüt »Triumphgemüse«. Ein Jahr später, 2001, das Debüt von Julia Schoch, der Erzählungsband »Der Körper des Salamanders«, und Jakob Heins Debüt »Mein erstes T-Shirt«.
Triumphgemüse, ein Wort wie aus dem DDR -Nostalgie-Shop, so nennt die alte Pensionswirtin Frau Tatziet die von Stammgästen zugesandten Ausschnitte aus Lokalzeitungen, in denen »von den Erfolgen fremder Enkel und Kinder berichtet wird«. Die Gegenwart kommt hier, auf dem Land, in dem brandenburgischen Alt-Lipchen, nur noch in Splittern an, die alte Frau ist »wie aus der Zeit gefallen«. Ihre Tochter Rieke ist zu Besuch, um sich zu erholen und auszuweinen, weil die Enkelin Liese gerade dabei ist, ihr Leben wegzuwerfen. Noch vor der Wende war sie in den Westen gegangen und hatte zuletzt in einer »Zigeunertruppe« auf Jahrmärkten getanzt.
Ganz wenige Tupfer braucht Jochen Schmidt in der Titelerzählung seines
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