Das kurze Glueck der Gegenwart
auf Tagesereignisse oder auf Kritikersonderwünsche ließ dann schon ein bisschen auf sich warten. Zwei Jahre, um genau zu sein. Zwei Jahre waren in diesem Fall die Jahre 2008 und 2009, in denen auch nicht gerade wenig passierte. Es waren zwei Jahre, in denen das Weltwirtschaftssystem zusammenbrach, erst der amerikanische Immobilienmarkt, dann das globale Banken- und Versicherungssystem, dann die Realwirtschaft (General Motors, Opel und so), schließlich ganze Länder wie Griechenland. So viel zum Thema Stoff.
Rückblickend betrachtet stecken diese explosionsartigen Weiterungen der Krise schon im denkwürdigen Auftritt Kerviels. Dessen Wirken enthielt bereits alles, was danach kam. Auch wenn es keinen kausalen Zusammenhang gibt – beziehungsweise sich keiner erkennen lässt, denn wer könnte einen solchen angesichts der Komplexität der Ereignisse hundertprozentig ausschließen?
Im Januar 2010 jedenfalls veröffentlichte der deutsche Schriftsteller Kristof Magnusson den Roman »Das war ich nicht«, einen Roman über den Trader einer Bank in Chicago, der binnen weniger Tage durch unautorisierte Optionsgeschäfte seiner Bank Milliardenverluste einhandelt. Seine Hauptfigur, der Deutsche Jasper Lüdemann, ist ein Workaholic, der gerade von einer Weiterbildung aus London nach Chicago zurückgekehrt ist und fast zufällig, weil er die durch Unachtsamkeit entstandenen Verluste eines jüngeren Kollegen ausbügeln will, ein System von Luftbuchungen und Geschäften mit nicht vorhandenem Kapital ausbaut. Eine Existenz jenseits der Firma kennt er nicht. »Bestimmt gab es auch noch eine Zeit für das Privatleben. Frau. Kind. Später. Ich war erst 31. Zwischen dreißig und vierzig musste man brennen.« Die Kontakte zu seiner Familie beschränkt er auf das Nötigste, mit Kollegen auszugehen ist ihm verhasst. Und das, obwohl er jederzeit damit rechnet, dem enormen Konkurrenzkampf in diesem Haifischbecken zum Opfer zu fallen. Schon die kleinsten Anzeichen für einen Statusverlust gelten ihm als Vorzeichen der drohenden Entlassung.
Mitten in dieser prekären Lage, als sich seine gigantischen Verluste nicht mehr lange durch allerlei Kniffe und Tricks verschleiern lassen, macht er die Bekanntschaft zweier Menschen, die mit seiner Welt nichts zu tun haben. Der weltbekannte Großschriftsteller Henry LaMarck leidet unter Schreibblockade. Er hat seinem Verlag ein neues Manuskript versprochen und sogar angekündigt, dass es sich mit den Folgen des 11. September beschäftigen soll. Dass es also ein brandaktueller Gegenwartsroman werden soll, ein Zeitroman, der die eigene Epoche auf den Begriff bringt. Tatsächlich hat er noch keine Zeile geschrieben. Meike, Henrys deutsche Übersetzerin, hat sich, nachdem sie von einer Verzögerung der Manuskriptabgabe erfahren hat, nach Chicago aufgemacht, um ihrem bislang persönlich nicht bekannten Autor auf die Sprünge zu helfen. Sie hat allerdings auch ein handfestes persönliches Interesse an dem Roman. Sie hat gerade ihren Freund verlassen und ist aus Hamburg in ein Haus auf dem Land gezogen. Das Geld aus der Übersetzungsarbeit braucht sie dringend.
Nach einigen Verwicklungen und Zufällen, die aus einer amerikanischen Filmkomödie aus den Vierzigern stammen könnten, hat sich eine Dreierkonstellation herausgebildet: Jasper hat sich in Meike verliebt, der Schriftsteller Henry dagegen rückt Jasper, dem in seinen Augen »verzweifelten Business-Boy«, auf die Pelle, weil er dessen Schicksal und dessen ökonomisches Wissen für seinen neuen Roman ausschlachten will. Denn als Henry das »Wall Street Journal« liest, versteht er nur Bahnhof: »Böhmische Dörfer: Zinsen, die sich bewegten und dafür sorgten, dass einzelne Aktien stiegen, was sich irgendwie auf Aktien auswirkte, deren Kursverläufe Bodenbildungen zeigten, Trendkanäle durchstießen, Schulter-Kopf-Schulter-Formationen ausbildeten, zum Teil mit verkrüppelter Schulter, Hebelwirkung …«
Magnusson stellt also die Herausforderung, als blutiger Laie über wirtschaftliche Vorgänge zu schreiben, in seinem Roman selbst dar. Es ist trotz seiner leichten Lesbarkeit und seines unterhaltsamen Plots zugleich ein »Metaroman«, ein Roman, der das in meinem Buch behandelte Verhältnis von Gegenwart und Fiktion selbst thematisiert und reflektiert. Magnusson hat genau das getan, was sein Held LaMarck sich vorgenommen hat: diese höchst komplexen, aber für die Gegenwart so folgenreichen Vorgänge in einer leicht fasslichen Geschichte zu erzählen,
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