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Das kurze Glueck der Gegenwart

Das kurze Glueck der Gegenwart

Titel: Das kurze Glueck der Gegenwart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Kaemmerlings
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richtigen Ideen und Kontakten Karriere und sehr viel Geld machen konnte. In der New Economy war man nicht gebunden an Tarifverträge und ökonomische Grundgesetze, brauchte weder Gewerkschaften noch einen festen Arbeitsplatz. »Ich halte nichts vom Prinzip des Stundenlohns«, bekommt Christian vom Chef bei seinen Gehaltsverhandlungen zu hören.
    Das Timing von Rainer Merkel war auf unheimliche Weise perfekt. Als »Das Jahr der Wunder« 2001 erschien, war die schöne Welt der neuen, grenzenlosen Wirtschaft gerade im Begriff zusammenzubrechen. So ist dieses Buch zugleich das Porträt einer Epoche und ein Erklärungsversuch für ihren Niedergang.
    »›Das ist es ja gerade. Dass alles offen bleiben soll‹, sagt Steinfeld. Er hat einen leichten Glanz auf der Stirn, so als würde er auf eine dezente und eingeübte Art schwitzen. ›Du sollst dich überhaupt nicht festlegen. Es ist so, als hättest Du von alledem hier‹, er machte eine weit ausholende Bewegung, ›keine Ahnung. Du stellst es Dir einfach vor.‹« Christian Schlier (auch der sprechende Nachname ist Programm) gerät in eine Welt, in der alle Übergänge fließend sind, nichts feststeht, alles möglich und zugleich nichts wirklich ist. Während er nicht einmal weiß, wie die Hierarchien in der Agentur sind, wer eigentlich wem etwas zu sagen, wem er selbst unterstellt, gleichgeordnet oder möglicherweise sogar vorgesetzt ist, entwirft er für einen denkbar prosaischen Kunden, eine Bausparkasse aus dem Schwäbischen, eine CD-ROM mit »Erlebniswelten«.
    Er selbst gerät in einen Zustand des Fließens, des Undefinierten, die prekären Gewissheiten seines Lebens (Beziehung, Studium, Freundschaften) gleiten fast unbemerkt davon, während das Wunderland nur scheinbar eine konkrete Zukunft verheißt. Den ausgehandelten Traumlohn bekommt er zunächst gar nicht, aber als er Geld in den Taschen hat, bleibt Christian ein Praktikant auf Lebenszeit, der aber das Gefühl hat, an einem bedeutenden Projekt mitzuarbeiten. Die großartigen virtuellen Welten scheinen die Konzepter und Grafiker nicht so sehr für den Kunden, sondern fast mehr noch für sich selbst entworfen zu haben. Während sein Privatleben, seine Freundschaften und seine Beziehung in die Brüche gehen, wird er Teil eines Kosmos der Unverbindlichkeit, aus dem er schließlich trotz des Erfolges der entscheidenden Präsentation wieder hinausgleitet. Die Firma selbst wird von einem Global Player aus Übersee übernommen, Prioritäten und Hierarchien verschieben sich am Ende erneut.
    Merkel zieht den Leser durch die Augen seines Ich-Erzählers hinein in den Traum von der schönen neuen Start-up-Welt. Und aus dieser Innensicht versteht man plötzlich auch den Mechanismus, viel plastischer und direkter als in einer Außensicht möglich. Der Autor hat sehr genau den im Buch erwähnten Foucault gelesen. Dessen Vorstellung, dass Autorität als Biomacht direkt die Körper unterwirft, fließt in den Roman ein: »Überall stehen Schreibtische, an denen GFPD -Mitarbeiter sitzen, die Gesichter, fein geschnitten, von Kreativität wie einbalsamiert.« Wie Sex nie nur Sex ist, ist Wirtschaft auch nicht nur Wirtschaft, sondern immer auch ein Bewusstseinszustand.
    »Die Lage wird dadurch so kompliziert, dass weniger denn je eine einfache Wiedergabe der Realität etwas über die Realität aussagt. Eine Photographie der Kruppwerke oder der A.E.G. ergibt beinahe nichts über diese Institute. Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht.« Das schrieb Bertolt Brecht 1931, und das gilt noch in viel höherem Maße für die Informationsströme und Datenflüsse der Gegenwart. Denn das Funktionieren des Systems ist nicht mehr an Entscheidungen von Individuen gekoppelt, seine Darstellung also auch nicht mehr an individuelle Lebensentwürfe. Das Leben ist kein Roman, sagt man. Aber der Roman unserer Gegenwart kann auch nicht einfach dem Leben folgen. Er muss sich in Schaltkreise begeben, in Produktzyklen oder in Computersimulationen, in die virtuellen Welten, die Rainer Merkel für seinen Protagonisten ausmalt. Einen solchen Zugriff auf die Informations- und Datenströme der Gegenwart unternehmen allerdings nur sehr wenige Autoren. Und das hat eben, siehe Magnussons Wirtschaftslaie LaMarck, Gründe, die in der Sache selbst liegen.
    Dazu noch einmal zwei Zitate. Das erste ist eine Meldung aus der FAZ vom September 2008: »Die amerikanische Bundespolizei FBI hat vorläufige Ermittlungen in vier Finanzkonzernen begonnen, die

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