Das kurze Glueck der Gegenwart
unbekannten, wilden Osten mehr als zwanzig Jahre nach der Wende immer noch ein Haupttopos der jüngeren deutschen Literatur ist. Solche Bücher hätte man in den frühen neunziger Jahren erwartet, aber jetzt? Der ostdeutsche Autor André Kubiczek hatte den Spieß übrigens in seinem 2006 erschienenen Roman »Oben leuchten die Sterne« bereis umgedreht und seine beiden abgerissenen Berlin-Mitte-Helden vom Harz Richtung Schwarzwald geschickt, ein Roadmovie im Westen, gut zehn Jahre nach Krachts »Faserland« – auch daran kann man sehen, wie fremd sich Ost und West sein können.
Nicht nur für die Ostdeutschen scheint das Dringliche der Differenz, des fortdauernden Deutsch-Deutschen wieder zuzunehmen. Auch der Westen ist immer noch damit beschäftigt, den Osten wirklich zu entdecken.
5.The future is now: Müssen die Schriftsteller jetzt alle BWL studieren?
»Ein junger Mann vom Ende der Welt, aus einem kleinen Nest im Departement Finistère, macht seinen Weg: Seine Mutter hat daheim einen Friseursalon, der Vater ist ein Kunstschmied, der Junge wird katholisch erzogen, er spielt Fußball und mag Judo, ist Klassenbester in Mathe, studiert dann Wirtschaftswissenschaften und macht bei einer Großbank in der Hauptstadt leidlich Karriere – ein kleines Rädchen im Getriebe, ein durchschnittlicher Charakter aus der statistischen Normalverteilung. Mit einunddreißig reißt dieser Niemand im Alleingang die Finanzwelt in einen Strudel und vernichtet in null Komma nichts das Fünfzigtausendfache seines Jahresgehalts. Jérôme Kerviel ist eine literarische Figur, seine Biografie Stoff für einen Epochenroman. Kerviel ist ein Held unserer Zeit.«
Das ist ein Selbstzitat aus einem Artikel, in dem ich der Literatur einen exemplarischen Stoff empfahl: Darüber solltet ihr einmal schreiben. Weil es so selten ist, ist es besonders schön, wenn man als Kritiker eine direkte Wirkung hat. Wenn man wie ich, in diesem Aufmacher im Januar 2008, den deutschen Neuerscheinungen der letzten Jahre kollektives Versagen vorwirft, weil eben solche Gestalten, solche irren Storys und unglaublichen Plots, wie sie die Finanzwelt kennt, gerade nicht vorkommen, dann ist die erste Reaktion der Betroffenen, also der Schriftsteller, verständlicherweise spontan eher Ablehnung. »Am Tellerrand gescheitert. Warum die Gegenwartsliteratur die Gegenwart meidet« war der Artikel polemisch überschrieben. Das war natürlich, wie jede Polemik, einseitig und übertrieben, denn Gegenwart hat ja in vielfältigster Weise Einzug in die Literatur gehalten – vor allem im Vergleich mit den achtziger und frühen neunziger Jahren. Doch gerade deswegen ist es besonders auffällig, wenn sich unter den Stoffen und Schauplätzen der Literatur bestimmte Lücken auftun.
Gerade war die Story des kleinen Traders Kerviel, der die riesige Bank Société Générale an den Rand des Abgrunds geführt hatte, in ihren sagenhaften Einzelheiten bekannt geworden. Ich griff diesen realen Plot aus der Bankenwelt auf, um den jeweiligen Debütanten der Saison eine einseitige Wahl ihrer Stoffe vorzuwerfen. Kerviels Geschichte klang so phantastisch, dass man sie in einem Roman kaum glaubhaft finden würde. In einer Rezension würde man dann schreiben: »Schöne Satire auf die Finanzwelt, auch wenn die Story, dass ein kleiner Angestellter unbemerkt und wie nebenbei eine Großbank in den Abgrund reißt, doch etwas übertrieben ist.« Doch wenn die Wirklichkeit die Fiktion überholt, wie muss dann die Fiktion reagieren? Sie muss sich zumindest erst einmal auf die Höhe der Welt bringen, bevor sie glaubhaft wieder irgendetwas erfinden kann.
Das kommt natürlich bei den Profis nicht gut an. Und tatsächlich meldeten sich Autoren und auch andere Kritiker zu Wort, die meine Forderung für naiv, kurzsichtig oder gar schädlich hielten. Literatur sei doch kein Journalismus. Andererseits bekam ich auch nicht wenige zustimmende Briefe und Mails von mir bislang unbekannten Autoren, die mir sagten, dass ich eigentlich ganz recht habe – ich hätte eben nur ihren eigenen Roman vergessen. So schrieben mir Banker, die nebenbei einen Bankerroman, Anwälte, die einen Anwaltsroman, und mittelständische Unternehmer, die einen Roman über mittelständische Unternehmer geschrieben und manchmal leider sogar veröffentlicht hatten, im Kleinst- oder Selbstverlag. Hier sei doch genau das, was ich vermisste. Hilfe! So hatte ich mir meinen Beruf auch wieder nicht vorgestellt.
Doch die direkte Reaktion der Literatur
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