Das kurze Glueck der Gegenwart
komplexes Erinnerungsgeflecht, geschult an den großen Elegikern wie Proust oder Nabokov. Was zunächst wie ein unkontrolliertes Assoziieren erscheint: Die Hose, die der Erzähler an dem Tag trug, an dem er seine Liebe traf, wird zum Mittelpunkt eines Flickenteppichs von Geschichten: aus der Kindheit in Bonn, aus Besuchen bei der Familie seiner Freundin, der Studentenzeit. Auch eine Klassenfahrt in den Osten und der Tag des Mauerfalls sind nur Episoden eines im Grunde ungebrochen über die eigenen Vergangenheit verfügenden Bewusstseins. Einmal stellt sich der Erzähler vor, wie die Kunststofffabrik seines Onkels in die Luft fliegt und sich der Harz über den Ort und das Rheintal ergießt und alles erstarren lässt: eine Kindheit in Bernstein, von außen zu betrachten und unveränderlich wie ein Museumstück.
Für die Behauptung, dass es nach wie vor eine ost- und eine westdeutsche Literatur gibt, spricht der Boom eines eigentlich ganz undeutschen Genres: der Road Novel, der Expeditionsreise ins eigene und doch ganz fremde Land, das meist der Osten ist. Oder die Reise geht noch weiter und führt nach Polen, in die Ukraine, nach Russland. Und oft haben diese Bücher einen Zug ins Komische, Humoreske, Satirische. Der Osten taugt eben, wie alles Fremde, immer noch ganz gut als Witzlieferant oder mindestens als Kontrastfolie für westdeutsche Selbstverständlichkeiten. Hier nur ein paar der Beispiele, die sich in den letzten Jahren immer mehr zu häufen scheinen:
Der im Zonenrandgebiet Westdeutschlands aufgewachsene Jan Böttcher etwa schickt in »Geld oder Leben« (2006) den einundzwanzigjährigen Karl mit einem geklauten VW -Bus aus der westdeutschen (Lüneburger Heide) in die ostdeutsche Provinz (Brandenburg) zur Beerdigung seines Großvaters. Der war einst aus mysteriösen Gründen in die DDR geflüchtet, man vermutet, er sei Agent des Verfassungsschutzes gewesen. In dem ostdeutschen Nest, in dem es reichlich braun wabert, verstrickt sich Karl in ein merkwürdiges Beziehungsnetz aus alten Kameraden und neuen Nazis und verliebt sich in die Sozialarbeiterin Nane. Böttcher lässt hier mit leichter Hand und leichtem Witz ost- und westdeutsche Klischees aufeinanderprallen: Seine Familientradition ist untrennbar mit einem urbundesrepublikanischen Mythos verbunden: der Sparkasse.
Völlig durchgeknallt kommt der Osten bei Oliver Maria Schmitt ins Bild, in »AnarchoShnitzel schrieen sie« (2006). In diesem »Punkroman für die besseren Kreise« liefert der frühere Chefredakteur des Satiremagazins »Titanic« so etwas wie die proletarische Ostvariante eines Popromans. Zwei alte Rocker brettern mit einer früheren Staatskarosse (warum müssen in Roadmovies die Autos eigentlich immer geklaut sein?) durch die neuen Länder, um dort eine Reunion ihrer vor zwanzig Jahren aufgelösten Punkband zu unternehmen.
Doch die Reisen der deutschen Schriftsteller enden nicht an der polnischen Grenze. Marion Poschmann reist im »Schwarzweißroman« (2005) nach Magnitokorsk; Gernot Wolfram in »Samuels Reise« (2005) nach Krakau; Jo Lendle schickt »Die Kosmonautin« (2008) quer durch Russland bis nach Kasachstan zur Weltraumbasis Baikonur und Michael Ebmeyer seinen »Neuling« ins südsibirische Kemenovo. Der Osten ist immer noch die Terra incognita schlechthin.
In diesem Genre hat die letzte Saison gleich zwei weitere gelungene Beispiele zu bieten: Neben Moritz von Uslars »Deutschboden«, auf den an anderer Stelle näher eingegangen werden wird, beeindruckte vor allem Wolfgang Herrndorfs Roman »Tschick« mit einer neuen Variante: Zwei Jugendliche aus (West-)Berlin fahren in einem geklauten (sic!) Lada in den großen Ferien einfach los. Ihr Ziel: die Walachei. So weit kommen die beiden zwar nicht, doch die Landschaften, durch die die beiden gurken, sind den Stadtjungs genauso fremd wie Rumänien. So landen sie etwa in der Lausitz, treffen auf Sorben und durchqueren Geisterdörfer im früheren Braunkohleabbaugebiet. Kulissen für jugendliche Abenteuer in diesem wunderbaren und trotz seines schnodderigen Tones sehr ernsthaften Roman über das Erwachsenwerden, über die Freundschaft und das Erlebnis einer Freiheit, die man so nur zu jener Zeit, mit vierzehn, fünfzehn, machen kann und danach nie wieder.
Alle diese Autoren stammen aus Westdeutschland, sie sind geboren in Essen und Heilbronn, Bonn und Osnabrück und wuchsen auf in Nürtingen oder Hamburg. Es ist bezeichnend, fast schon lächerlich, dass die Reise in und durch den
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