Das kurze Glueck der Gegenwart
natürlich nicht.« Nur durch den Verlust der Selbstverständlichkeiten, der Identität gewinnt das vor der Wende Zufällige, ja sogar Verhasste plötzlich an Wert, an Aura. Eggesin wird zum Fluchtpunkt der Existenz. Vor der Wende hätte man rebelliert, jetzt zieht man sich dahin zurück. New York wäre ein Traum gewesen, jetzt geht sie ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten, um dort den Freitod zu wählen: »Die Welt des Sozialismus hatte die Wünsche schrumpfen lassen. (…) Die Träume waren so klein gewesen, dass ihre Erfüllung unspektakulär leicht war. Man musste nur in eine andere Gesellschaft überwechseln. Das oft fremde, unwillige Gefühl in den Jahren nach der Revolution kam auch daher, dass man nun, nachdem der eigene Wunschvorrat erschöpft war, nicht wusste, welcher Art von Träumen in dieser anderen Gesellschaft nachzuhängen war.«
Nebenbei geißelt Schoch den Umgang mit Bauwerken und Zeugnissen der Vergangenheit aus identitätspolitischen Gründen: »Die Retter, die, weil es sonst nichts zu tun gab, seit ein paar Jahren auftauchten und alles retteten, was herumstand und historisch schien. Das doch immer das Falsche, das Unwichtigste war: Es hatte ja nichts mit ihr zu tun. Während das noch ganz Nahe, Letzte achtlos verschwand, wurde sich eifrig früheren Jahrhunderten zugewandt.« Hier darf man sicher auch an die Entscheidung zum Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses denken, die ja zugleich den Abriss des Palasts der Republik bedeutete – für viele Ostdeutsche jetzt zum Symbol der Erinnerungsentsorgung geworden.
Die Fixierung auf die Erinnerung und das gleichzeitige Wissen um ihre Unmöglichkeit sind eine Besonderheit dieser jungen ostdeutschen Literatur. Antje Ravic Strubel etwa steigt in ihrem Roman »Tupolew 134« (2004) über die (reale) Geschichte einer Republikflucht in den siebziger Jahren tief in den »Schacht« – eine Metapher, die sie in ihrem Roman selbst verwendet für die Wiedererweckung einer Welt, die für immer verloren ist. Rund um die kriminalistische Suche nach der Wahrheit der damaligen Vorgänge – die Entführung war gar nicht geplant, das Pärchen Lutz Schaper und Katja Siems wurde bei der gemeinsamen Republikflucht verraten und kaperte die Maschine nur als Ersatzhandlung – gibt der Nachrichten-Scoop nur den Rahmen ab für eine Erforschung der Vergangenheit, deren man allerdings kaum habhaft werden kann: »Etwas, das sehr weit zurückliegt, wird im Märchen am glaubhaftesten. Ein verschwundenes Land, wie das, in dem Katja geboren wurde, liegt sehr weit zurück.« Deswegen kommt man in der Beschreibung, bei der Arbeit im Schacht mit journalistischen oder dokumentarischen Mitteln nicht ans Ziel. Nur in der Fiktion lassen sich die wahren Motive aufklären. »Glauben Sie nicht, dass ich mir das ausgedacht habe. Glauben Sie nicht, dass es so passiert ist.«
Aber gab es diese Erinnerungsliteratur nicht genau so bei westdeutschen Autoren? Illies ist doch das beste Beispiel dafür. Im ominösen Jahr 2000 erschien David Wagners »Meine nachtblaue Hose«, das man als literarisches Gegenstück zu Florian Illies verstehen kann. 2001 kam »Herr Lehmann«, der später erfolgreich verfilmte Bestseller Sven Regeners, der unmittelbar vor dem Mauerfall spielt. Wird darin nicht auch eine Welt beschrieben, die verschwunden ist? Das alte Westberlin nämlich. Und ist nicht die Kindheit, jede Kindheit, ein fernes, märchenhaftes Land? War die Rückwendung auf die Kindheit nicht auch ein natürlicher Pendelschlag nach der lauten Gegenwartsfixiertheit der Popliteratur?
Da ist natürlich etwas Wahres dran. Und doch ist das nur die halbe Wahrheit, da die Erinnerungsliteratur im Westen und im Osten jeweils eine völlig verschiedene Funktion hat. Während sie im Westen zum Medium der Erinnerung wird, zum Gefäß, muss sie im Osten die Erinnerungen ersetzen. Das merkt man am Ton. Während die Westautoren sich ironisch-schmunzelnd, heiter-melancholisch der Vergangenheit nähern, ist der Osten ernst und unversöhnlich (wie Annett Gröschner). Oder ihm ist jede Erinnerung mit einem Gran Trauer versetzt, jeder Satz enthält einen Zusatz schweren, lähmenden, giftigen Bleis. Diese Kontamination mit Schwärze hat nichts mit dem Weißt-du-noch eines Sven Regener zu tun. Die DDR -Details sind keine Retro-Elemente oder Popzitate aus den achtziger Jahren.
Das literarisch bedeutendste Beispiel für diese Erinnerungsliteratur West ist sicherlich David Wagners Roman »Meine nachtblaue Hose« – ein
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